Geheime Macht
verdammten Haus. Mein Vater hat mich beauftragt, mehr über eine obskure Legende in Erfahrung zu bringen. Das Hexenorakel hat vor ein paar Wochen ein paar Dinge prophezeit, und seitdem wühle ich mich durch die Bibliothek.«
»Könntest du dich nicht einfach weigern, es zu tun?«, fragte Ascanio von hinten.
Roman warf ihm einen Blick zu und stieß einen dramatischen Seufzer aus. »Mein Vater ist der Schwarze Wolchw. Meine Mutter gehört dem Hexenorakel an. Ich muss mich fragen, ob ein Nein von mir all die Probleme wert ist, all das Gezeter und die Vorwürfe, ich sei kein guter Sohn, die Predigten, die ich von meinen Eltern zu erwarten habe, und die Geschichte, wie meine Mutter vierzig Stunden lang mit mir in den Wehen lag, eine Geschichte, die ich inzwischen auswendig nacherzählen kann. Es ist viel leichter für mich, einfach zu tun, was sie von mir verlangen. Außerdem wäre es wirklich besser, wenn wir vorbereitet sind, falls die Prophezeiung tatsächlich großes Unheil über uns bringt.«
»Was ist das für eine Prophezeiung?«, wollte Ascanio wissen.
»Das ist leider geheim«, sagte Roman und zwinkerte ihm zu. »Natürlich könnte ich es euch verraten, aber dann müsste ich euch töten und eure Seelen in Ketten legen, worauf ihr für alle Ewigkeit meine Schattendiener wärt. Kommt jetzt, hier geht es lang.«
Roman bog nach links ab, lief zwischen den Bücherregalen hindurch und drang immer tiefer in den zweiten Stock der Bibliothek vor.
Ascanios Augen wurden riesengroß, und er drehte sich zu mir um. »Wäre er wirklich dazu imstande?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Geh ihm doch einfach ein bisschen auf die Nerven, dann werden wir es erfahren.«
»Nein, danke.«
Roman führte uns durch den schmalen Gang bis zur Hinterseite der Bibliothek, wo fünf Monitore schwach glommen. Er zog eine Karte unter seinem Gewand hervor und steckte sie nacheinander in die Kartenlesegeräte der zwei nächsten Terminals. Das Logo der Bibliothek von Alexandria – ein von Flammen umhülltes Buch – erschien auf den beiden Bildschirmen.
»Viel Erfolg.«
»Besten Dank.« Das war wirklich sehr nett von ihm.
»Äh, dürfte ich dir vielleicht eine Frage stellen? Unter vier Augen?«
»Klar.« Ich zeigte auf das linke Terminal. »Ascanio, such nach unserem Freund. Vergiss nicht: alles, was mit seiner Kunstsammlung zu tun hat.«
Wir liefen an der Wand entlang, bis wir außerhalb Ascanios Hörweite waren, fast am anderen Ende dieser Abteilung.
Romans dunkle Augen wurden ernst. »Du hast Verbindungen zum Rudel, nicht wahr?«
»Ein paar.«
Er runzelte die Stirn, während er groß und düster neben mir aufragte. »Hast du irgendetwas … Beunruhigendes gehört? Dass es zum Beispiel die Herrschaft über die Stadt an sich reißen will?«
»Nein. Das würde sowieso nie passieren. Curran ist Separatist«, erklärte ich ihm. »Er glaubt fest daran, dass die Gestaltwandler einen gewissen Abstand zu allen anderen halten sollten. Das Rudel verehrt den Boden, über den ihn seine Schritte geführt haben. Seine Leute würden niemals etwas ohne seinen Befehl tun. Und selbst wenn sie es tun würden, wie könnten sie dann noch die Festung halten? Alle anderen würden sich gegen sie verbünden und sie auslöschen, mal ganz abgesehen von staatlichen Vergeltungsmaßnahmen.«
Roman strich sich über das Kinn. »Wohl wahr …«
»Warum fragst du?«
»Wegen der Prophezeiung. Manche Prophezeiungen sind sehr eindeutig. Diese war es nicht. Die Hexen sahen einen Schatten, der über die Stadt fällt, und dann war ein Geheul zu hören. Ein ohrenbetäubendes, unheimliches Geheul. Sie sind sich nicht sicher, ob es ein Hund oder ein Wolf oder etwas anderes ist. Außerdem haben sie eine Spirale aus Lehm gesehen.«
»Und was bedeutet das alles?«
Roman schüttelte den Kopf. »Niemand weiß es. Es muss sich schrecklich angefühlt haben, weil meine Mutter anschließend völlig aus der Fassung war.«
Ich war Evdokia begegnet. Alles, was sie aus der Fassung brachte, musste als ernsthafte Bedrohung eingestuft werden.
»Hast du morgen Abend schon etwas vor?«, fragte Roman. »Ich bin sehr an deiner Sicht der Dinge interessiert.«
»Fragst du mich nach einem Date?« War das ein Flirt oder kein Flirt?
Roman lehnte sich mit einem Arm gegen ein Bücherregal. »Ich doch nicht! Ich mache keine Dates. Ich raube nur Jungfrauen, um sie zu opfern.«
Ein Flirt. Es war ein schamloser Flirt. »Hmm, dann bin ich für dich uninteressant. Weil ich keine
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