Geheime Melodie
Anderson wäre stolz auf mich.
»Bei mir geht es frühestens morgen nachmittag, Barney«, sage ich ruhig. »Dann kann mich der Boß immer noch an sein Herz drücken.«
Diesmal kommt die Reaktion prompt.
»Sie haben sie wohl nicht mehr alle! Morgen ist Mittwoch, Mann. Heiligabend!«
Mein Herz vollf ührt regelrechte Bocksprünge, aber ich lasse mir meinen Triumph nicht anmerken.
»Dann eben Donnerstag oder gar nicht, Barnes. Es sei denn, es ist eine Sache auf Leben und Tod, und das ist es ja nicht, sagen Sie. Tut mir leid, aber so sieht’s aus.«
Ich lege auf. Gar nichts tut mir leid, im Gegenteil. Morgen ist Heiligabend, und wie es die Legende will, hat Mr. Anderson seit zwanzig Jahren keinen Heiligabend verpa ßt. Da können Philip und seine Männer ihm die Tür eintreten, da können wichtige Stenoblöcke den Flammen entrinnen oder Tonkassetten verschwinden – egal: Am Mittwochabend ist Chorprobe in Sevenoaks, und Mr. Anderson ist die Stütze des ersten Basses.
Der erste Schritt w äre geschafft. Ich widerstehe der Versuchung, Hannah auf Grace’ Handy anzurufen und ihr von meinem begnadeten Schachzug zu erzählen, wähle statt dessen die Nummer der Auskunft und bin Sekunden später mit der Feuilletonredakteurin des Sevenoaks Argus verbunden. Ich hätte da einen Onkel, beginne ich listig. Er singe im Chor von Sevenoaks im ersten Baß. Morgen habe er Geburtstag. Ob sie mir wohl freundlicherweise verraten könne, wo und wann sich der Chor Mittwoch abends treffe?
Hm. Aha. Ja und nein. Ob ich ihr vielleicht sagen k önne, ob mein Onkel zu den Autorisierten oder den Unautorisierten gehöre?
Ich bekenne, damit überfragt zu sein.
Das freut sie. Sevenoaks, so erkl ärt sie, habe nämlich das seltene Glück, sich gleich mit zwei Chören schmücken zu können. Das landesweite Singfest in der Royal Albert Hall finde in drei Wochen statt. Beide Chöre hätten sich angemeldet, beide würden als Geheimtip für einen Preis gehandelt.
Ob sie mir eventuell den Unterschied erkl ären könne, bat ich.
Sie k önne, aber es müsse unter uns bleiben. Autorisiert bedeute, im Umfeld einer anerkannten Kirche angesiedelt zu sein, vorzugsweise Church of England, aber nicht zwingend. Es bedeute, erfahrene Gesangslehrer und Chorleiter zu haben, aber keine Profis, weil dazu das Geld nicht reiche. Es bedeute ausschließlich heimische Talente und keine Gastsänger.
Und unautorisiert?
Unautorisiert, aber auch das m üsse bitte unter uns bleiben, bedeute keine Kirche oder bestenfalls eine der obskureren Art, es bedeute neues Geld und Verstärkung von außerhalb, zu deren Beschaffung jedes Mittel recht sei, ohne Rücksicht auf die Kosten. Kurz und gut, es bedeute eine Einstellung, die nichts mit Heimatverbundenheit zu tun habe, sondern eher zu einer Profimannschaft im Fußball passe. Ob sie sich deutlich genug ausgedrückt habe?
Und ob. Mr. Anderson hat im Leben noch nie etwas Unautorisiertes getan.
Nachdem ich auf Umwegen in Mr. Hakims Pension zur ückgekehrt war – »taktische Haken schlagen« hätte Maxie es genannt –, rief ich sofort Hannah an, denn jetzt mu ßte sie unbedingt über meine grandiosen Machenschaften bis dato ins Bild gesetzt werden. Grace meldete sich, und sie hatte schlechte Neuigkeiten.
»Hannah ist echt down, Salvo. Diese Wohltätigkeitstanten sind so verkorkst, daß man sich fragt, wo sie ihre Wohltätigkeit überhaupt hernehmen.«
Als Hannah an den Apparat kam, erkannte ich ihre Stimme kaum wieder. Sie sprach englisch.
»Wenn wir nur ein kleines bißchen weniger schwarz wären, Salvo. Ein paar Tropfen weißes Blut, und wir wären akzeptabel. Nicht du, du gehst grade noch. Aber wir, wir sind eine Zumutung. Wir sind dunkelschwarz. Um uns kommt man nicht herum.« Sie stockte, fing sich aber wieder. »Drei von unseren Kindern sollten bei einer Mrs. Lemon schlafen. Sie haben die gute Mrs. Lemon noch nie gesehen, aber sie lieben sie, okay?«
»Okay.«
»Zwei Übernachtungen in einer Pension am Meer, das ist ein Traum für sie.«
Erneut mu ßte sie innehalten. »Mrs. Lemon ist Christin, deshalb wollte sie uns kostenlos aufnehmen. Amelia – eines von meinen Sonntagsschulkindern –, Amelia hat ein Bild gemalt, die strahlende Sonne über dem Meer, und die Sonne ist eine große, lachende Zitrone. Okay?«
»Okay.«
»Tja, und nun ist Mrs. Lemon plötzlich unpäßlich.« Mit lauter Stimme imitierte sie Mrs. Lemon. »Ich muß an mein Herz denken, meine Liebe. Ich darf mich nicht aufregen. Ich hatte ja keine
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