Geheime Spiel
gewöhnt, in der Gerüchteküche übertrumpft zu werden. »Alfred hat gesagt, dass die Dienstboten eingeladen werden, sich das Theaterstück anzusehen«, sagte ich.
»Hausdiener!« Nancy schüttelte verächtlich den Kopf. »Verlass dich nie auf einen Hausdiener, wenn du die Wahrheit hören willst, Mädchen. Von wegen eingeladen. Den Dienstboten ist es gestattet , dem Theaterstück beizuwohnen, und das ist sehr großzügig von Seiner Lordschaft. Er weiß, was die Familie uns allen hier unten bedeutet, wie wir uns daran freuen, die Kinder groß werden zu sehen.« Ich hielt den Atem an, als sie sich wieder auf die Vase auf ihrem Schoß konzentrierte, hoffte, sie würde fortfahren. Nach einer Weile, die mir wie eine Ewigkeit erschien, sagte sie: »Das ist jetzt das vierte Jahr, dass sie ein Theaterstück aufführen. Seit Miss Hannah zehn ist und sich in den Kopf gesetzt hat, Theaterregisseurin zu werden.« Nancy nickte. »Sie ist wirklich ein eigenwilliges Persönchen, diese Miss Hannah. Kommt genau nach ihrem Vater.«
»Inwiefern?«, fragte ich.
Nancy überlegte. »Sie sind beide von Fernweh beseelt«, sagte sie schließlich. »Sind beide sehr klug und haben den Kopf voller neumodischer Ideen, und die Tochter ist genauso stur wie der Vater.« Sie sprach jedes Wort betont deutlich aus, wie um mir einzuschärfen, dass derartige Marotten für die in den oberen Etagen vollkommen akzeptabel waren, jedoch bei meinesgleichen keinesfalls toleriert würden.
Solche Belehrungen hatte ich mir mein Leben lang von meiner Mutter anhören müssen. Ich nickte einsichtig, während sie fortfuhr: »Meistens verstehen sie sich großartig, aber wenn nicht, dann bekommen es alle mit. Niemand
kann Mr Frederick so aus der Fassung bringen wie Miss Hannah. Schon als ganz kleines Mädchen wusste sie genau, wie sie ihn zur Weißglut bringen konnte. Sie war ein kleiner Wildfang und vollkommen unberechenbar. Ich weiß noch, wie sie einmal aus irgendeinem Grund fürchterlich wütend auf ihn war und sich in den Kopf gesetzt hatte, ihm einen gehörigen Schrecken einzujagen.«
»Und was hat sie getan?«
»Lass mich überlegen … Master David war zum Reitunterricht. Damit hat alles überhaupt angefangen. Miss Hannah, die wütend war, weil sie sich ausgeschlossen fühlte, hat kurzerhand Miss Emmeline an die Hand genommen, und gemeinsam sind sie Nanny Brown entwischt. Bis hinters Dorf sind sie marschiert, bis zu den Feldern, wo die Bauern dabei waren, Äpfel zu ernten.« Sie schüttelte den Kopf. »Hat Miss Emmeline überredet, sich mit ihr in einer Scheune zu verstecken, unsere Miss Hannah. Das ist ihr sicher nicht schwergefallen, Miss Hannah kann sehr überzeugend sein, außerdem hat Miss Emmeline sich über all die vielen frischen Äpfel gefreut, an denen sie sich gütlich tun konnten. Dann plötzlich kommt Miss Hannah zum Haus zurückgelaufen, keuchend und schwitzend, als wär sie um ihr Leben gerannt, und ruft nach Mr Frederick. Ich war gerade dabei, im Esszimmer den Mittagstisch zu decken, und da höre ich, wie Hannah ihm erzählt, ein paar Fremde mit dunkler Haut hätten sie in der Apfelplantage angesprochen. Sie sagte, die Männer hätten Miss Emmeline die schönsten Komplimente gemacht und ihr versprochen, sie auf eine Reise übers Meer mitzunehmen. Miss Hannah meinte, sie könnte sich nicht sicher sein, aber sie fürchtete, die Männer wären Mädchenhändler.«
Meine Augen weiteten sich vor Schreck über Hannahs Kühnheit. »Und was ist dann passiert?«
Nancy, die sich immer sehr wichtig vorkam, wenn es um Geheimnisse ging, kam allmählich in Fahrt. »Nun, Mr Frederick war immer schon ängstlich besorgt, was Mädchenhändler betraf. Er ist erst ganz bleich geworden, dann plötzlich puterrot angelaufen, und ehe wir bis drei zählen konnten, hatte er Miss Hannah schon auf dem Arm und war unterwegs zu den Apfelplantagen. Bertie Timmins, der an dem Tag bei der Apfelernte war, erzählte uns später, Mr Frederick wäre völlig außer sich gewesen, als er ankam. Hätte Befehle gebrüllt und Leute für einen Suchtrupp zusammengetrommelt und geschrien, zwei dunkelhäutige Männer hätten Miss Emmeline entführt. Sie sind in alle Richtungen ausgeschwärmt, haben jeden Winkel durchsucht, aber keiner hatte zwei dunkelhäutige Männer mit einem goldblonden Mädchen gesehen. «
»Und wie haben sie sie gefunden?«
»Sie haben sie überhaupt nicht gefunden. Miss Emmeline hat die Leute vom Suchtrupp gefunden. Nach einer Stunde oder so, als es ihr in
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