Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Geheime Spiel

Geheime Spiel

Titel: Geheime Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Morton
Vom Netzwerk:
Nancy so weit aus dem Weg, wie es möglich ist, wenn man mit jemandem zusammenlebt und arbeitet. Abends, wenn sie sich auskleidete, lag ich reglos im Bett, das Gesicht zur Wand gedreht, und stellte mich schlafend. Ich war jedes Mal erleichtert, wenn sie endlich die Kerze ausblies und das Bild mit dem sterbenden Hirsch im Dunkeln verschwand. Wenn wir uns tagsüber auf dem Flur begegneten, rümpfte Nancy verächtlich die Nase, während ich demütig zu Boden blickte.
    Zum Glück hatten wir alle Hände voll zu tun mit den Vorbereitungen für den Empfang von Lord Ashburys Gästen. Die Gästezimmer im Ostflügel mussten gelüftet, die Überwürfe entfernt und alle Möbel poliert werden. Das gute Linnen wurde aus riesigen Truhen auf dem Dachboden geholt, auf schadhafte Stellen überprüft und gewaschen. Da es angefangen hatte zu regnen und die Wäscheleinen hinter dem Haus nicht zu gebrauchen waren, trug Nancy mir auf, die Laken über die Wäscheständer im oberen Wäscheraum zu hängen.
    Und dort erfuhr ich etwas mehr über das SPIEL. Denn weil der Regen anhielt und Miss Prince fest entschlossen war, den Hartford-Kindern die subtileren Aspekte von Tennysons Lyrik näherzubringen, suchten die drei sich ständig neue Verstecke, die immer tiefer im Herzen des Hauses lagen. Der Leinenschrank im Wäscheraum befand sich hinter dem Kamin und war von allen Verstecken am weitesten vom Unterrichtszimmer entfernt. Und so richteten sie sich dort ein.

    Wohl gemerkt, ich habe sie das SPIEL nie spielen sehen. Regel Nummer eins: Das SPIEL ist geheim. Aber ich habe sie belauscht und beobachtet, und ein paarmal, wenn die Versuchung mich übermannte und die Luft rein war, habe ich in die Kiste gelugt. Und dabei habe ich Folgendes herausgefunden:
    Das SPIEL war alt. Sie spielten es schon seit Jahren. Nein, spielen ist nicht das richtige Wort. »Leben« trifft es besser. Sie lebten das SPIEL seit Jahren. Denn das SPIEL beinhaltete mehr, als sein bloßer Name erahnen ließ. Es war ein komplexes Fantasiegebilde, eine andere Welt, in die sie entflohen.
    Es gab weder Kostüme noch Schwerter noch gefiederten Kopfschmuck. Nichts, wodurch das Ganze als SPIEL erkennbar gewesen wäre. Denn das war das Wesen des SPIELs. Es war geheim. Das einzige Requisit war die Kiste, eine schwarz lackierte Holzkiste, die einer ihrer Ahnen aus China mitgebracht hatte, ein Beutestück von einer Forschungs- und Plünderungsreise. Sie war etwa so groß wie eine Hutschachtel, und der Deckel war mit Intarsien aus Halbedelsteinen verziert, die eine Landschaftsszene darstellten: ein Fluss mit einer Brücke, am Ufer ein kleiner Tempel, daneben eine Trauerweide. Drei Gestalten standen auf der Brücke und über ihnen zog ein einzelner Vogel seine Kreise.
    Die Geschwister hüteten die Kiste wie ihren Augapfel, denn sie enthielt alles, was für das SPIEL vonnöten war. Denn obwohl das SPIEL verlangte, dass man viel umherrannte, sich versteckte und miteinander rang, lag das eigentliche Vergnügen ganz woanders. Regel Nummer zwei: Alle Reisen, Abenteuer, Erforschungen und Entdeckungen mussten aufgezeichnet werden. Die Wangen gerötet von den Gefahren, die sie überstanden hatten, kamen sie ins Haus, um ihre neuesten Abenteuer festzuhalten,
und dann wurden Karten und Diagramme angelegt, Codes aufgeschrieben, Zeichnungen und Bücher angefertigt.
    Die Bücher waren im Miniaturformat, mit Faden gebunden, und die Schrift war so winzig, dass man die Büchlein ganz dicht vor die Augen halten musste, um sie lesen zu können. Sie hatten Titel wie: Die Flucht vor Koshchei dem Unsterblichen; Die Begegnung mit Balam und seinem Bären; Die Reise in das Land der Mädchenhändler . Einige waren in einer Geheimschrift verfasst, die ich nicht entziffern konnte, aber hätte ich genug Zeit gehabt, danach zu suchen, hätte ich den Schlüssel bestimmt auf einem Stück Pergament in der Kiste gefunden.
    Das SPIEL selbst war einfach. Eigentlich hatten Hannah und David es sich ausgedacht, und als die beiden Älteren waren sie auch die Hauptakteure. Sie entschieden, welcher Ort reif war für eine Forschungsexpedition. Die beiden hatten sich ein Kabinett aus neun Beratern zusammengestellt – eine eklektische Mischung aus berühmten Viktorianern und ägyptischen Pharaonen. Es gab immer nur neun Berater, und wenn sie beim Stöbern in Geschichtsbüchern auf eine neue Figur stießen, die man unmöglich übergehen konnte, dann ließen sie eins der ursprünglichen Mitglieder entweder sterben oder auf andere Art

Weitere Kostenlose Bücher