Geheime Spiel
gibt weiß Gott nicht mehr viel, worauf ich stolz sein kann. Seit 1989 habe ich keinen Friseur mehr an meinen Kopf gelassen. Zu meinem großen Glück macht es Sylvia Spaß, mir die Haare Tag für Tag zu bürsten – ganz sanft macht sie das – und zu flechten. Ich bin ihr umso dankbarer, weil das eigentlich gar nicht zu ihren Pflichten gehört. Das muss ich ihr unbedingt einmal sagen.
Heute Morgen habe ich es vor lauter Aufregung ganz vergessen. Als Sylvia mir meinen Saft brachte, konnte ich ihn kaum trinken. Die nervöse Energie, die mich die ganze Woche über begleitet hatte, war über Nacht zu einem Knoten in meinem Magen geworden. Sylvia half mir in mein neues pfirsichfarbenes Kleid – das Kleid, das Ruth mir zu Weihnachten geschenkt hat – und in die Straßenschuhe, die gewöhnlich unbenutzt in meinem Schrank stehen. Das Leder war ziemlich steif, und es war gar nicht so einfach, meine Füße hineinzuzwängen, aber die Eitelkeit hat ihren Preis. Ich bin zu alt, um meine Angewohnheiten noch zu ändern, und ich finde es fürchterlich, dass die jüngeren Bewohner dieses Hauses in Hausschuhen ausgehen.
Ein Hauch von Puder ließ meine Wangen etwas rosiger erscheinen, aber ich habe darauf geachtet, dass Sylvia es nicht übertrieb. Schließlich möchte ich nicht aussehen wie die Schaufensterpuppe eines Leichenbestatters. Ich bin so blass und so klein, dass schon ein kleines bisschen mehr zu viel sein kann.
Mit einiger Mühe legte ich mir das goldene Medaillon um den Hals, ein elegantes Schmuckstück aus dem neunzehnten Jahrhundert, das eigentlich nicht so recht zu meiner praktischen Kleidung passt. Ich rückte es zurecht, wunderte mich über meine Kühnheit, fragte mich, was Ruth dazu sagen würde.
Dann fiel mein Blick auf den kleinen silbernen Rahmen auf meinem Schminktisch. Ein Foto von meinem Hochzeitstag. Meinetwegen bräuchte es nicht da zu stehen – es ist schon so lange her, und die Ehe war sehr kurz; armer John –, aber ich räume es Ruth zuliebe nicht weg. Ich glaube, sie stellt sich gern vor, dass ich mich nach ihm sehne.
Sylvia führte mich in den Salon – es wurmt mich immer noch, den Raum so zu nennen –, wo gerade das Frühstück aufgetragen wurde und wo ich auf Ruth warten sollte, die sich (obwohl sie eigentlich dagegen war, wie sie behauptet) bereit erklärt hatte, mich zu den Shepperton Studios zu fahren. Ich ließ mich von Sylvia an einen einzelnen Tisch in der Ecke geleiten und bat sie, mir ein Glas Saft zu bringen. Dann las ich Ursulas Brief noch einmal.
Ruth kam um Punkt halb neun. Sie mag ihre Bedenken gehabt haben, was diesen Ausflug anging, aber sie ist schon immer ein Muster an Pünktlichkeit gewesen. Ich habe einmal gehört, dass Kinder, die in schweren Zeiten geboren werden, immer etwas Leidendes ausstrahlen, und Ruth, ein Kind des Zweiten Weltkriegs, ist der lebende
Beweis für dieses Gesetz. Ganz anders als Sylvia, die nur fünfzehn Jahre jünger ist und in engen Röcken zur Arbeit erscheint, zu laut lacht und jedes Mal, wenn sie einen neuen Freund hat, die Haarfarbe wechselt.
Ruth kam auf meinen Tisch zu, makellos gekleidet und zurechtgemacht, aber steifer als ein Stock.
»Guten Morgen, Mum«, sagte sie und hauchte mir mit kalten Lippen einen Kuss auf die Wange. »Schon fertig gefrühstückt?« Sie warf einen prüfenden Blick auf das halb leere Glas vor mir. »Ich hoffe, das war nicht alles, was du zu dir genommen hast. Wir werden sicherlich in den Berufsverkehr geraten und keine Zeit haben, irgendwo anzuhalten.« Sie schaute auf ihre Uhr. »Musst du noch mal aufs Klo?«
Ich schüttelte den Kopf und fragte mich, wann wir die Rollen getauscht hatten und ich zur Tochter geworden war.
»Du trägst ja Vaters Medaillon; das hab ich schon ewig nicht mehr an dir gesehen.« Mit einem beifälligen Nicken rückte sie es zurecht. »Er hatte einen guten Geschmack, nicht wahr?«
Ich stimmte ihr zu, gerührt von der Vorbehaltlosigkeit, mit der Kinder einem kleine Lügen abkaufen. Eine Welle der Zuneigung für meine kratzbürstige Tochter überkam mich, und ich beeilte mich, die vertrauten elterlichen Schuldgefühle zu unterdrücken, die jedes Mal in mir hochkommen, wenn ich in ihr besorgtes Gesicht sehe.
Sie nahm meinen Arm, hakte sich bei mir unter und drückte mir meinen Spazierstock in die andere Hand. Die meisten anderen hier im Heim bevorzugen Gehhilfen auf Rollen oder sogar elektrische Rollstühle, aber ich komme immer noch ganz gut mit meinem Spazierstock zurecht und liebe
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