Geheime Spiel
Sohn, der in der vergangenen Nacht eingetroffen war.
Er sah sehr gut aus. Aber welcher junge Mensch tut das nicht? Bei ihm jedoch war es mehr als nur das. Es lag eine eigenwillige Schönheit in der Reglosigkeit, mit der er allein in dem großen Raum stand. Mit seinen ernsten, dunklen Augen unter den dunklen Brauen wirkte er wie das Abbild des Schmerzes. Eine tief empfundene Wunde, schlecht verheilt. Er war groß und schlank, aber nicht schlaksig, und trug sein braunes Haar länger, als es Mode war, sodass einige Strähnen seinen Kragen und seine Wangen berührten.
Ich sah, wie er sich langsam und konzentriert in der Bibliothek umschaute. Schließlich blieb sein Blick an einem Gemälde hängen. Eine mit wenigen schwarzen Strichen gezeichnete Rückenansicht einer hockenden Frau vor blauem Hintergrund. Das Bild hing unauffällig zwischen zwei bauchigen, blau-weiß gemusterten chinesischen Vasen an der hinteren Wand.
Hunter trat näher, um es genauer zu betrachten. Seine vollkommene Versunkenheit faszinierte mich, und meine Neugier war größer als mein Sinn für Schicklichkeit.
Die Bücher auf dem sechsten Regalbrett sehnten sich nach meinen Händen, die Rücken stumpf vom Staub eines Jahres, während ich den Mann dort unten beobachtete.
Kaum wahrnehmbar lehnte er sich zurück, dann wieder ein Stückchen vor, nur auf das Bild konzentriert. Ich bemerkte seine langen Finger an den schlanken Händen, die träge und reglos an seinen Seiten herabhingen.
Er stand immer noch da, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, den Blick auf das Gemälde geheftet, als hinter ihm die Tür aufflog und Hannah hereinstürmte, die chinesische Kiste an die Brust gedrückt.
»David! Endlich! Wir haben eine fantastische Idee! Diesmal können wir zum …«
Sie blieb wie angewurzelt stehen, als Robbie sich umdrehte und sie anschaute. Es dauerte einen Augenblick, bis sich ein Lächeln auf seinen Lippen zeigte, aber damit war auch jede Spur von Schwermut so plötzlich verschwunden, dass ich mich fragte, ob ich sie mir nur eingebildet hatte. Ohne den melancholischen Ernst wirkte sein Gesicht jungenhaft und glatt.
»Verzeihen Sie«, sagte Hannah, die Wangen vor Verlegenheit gerötet. Ein paar feine, hellblonde Strähnen hatten sich aus ihrem Zopf gelöst und fielen ihr ins Gesicht. »Ich habe Sie für jemand anderen gehalten.« Sie stellte die Kiste auf der Chaiselongue ab und strich sich die weiße Schürze glatt.
»Ich verzeihe Ihnen.« Er schenkte ihr ein Lächeln, flüchtiger als das erste, und wandte sich wieder dem Gemälde zu.
Hannah starrte seinen Rücken an, während sie verlegen mit den Fingerspitzen spielte. Ebenso wie ich wartete sie darauf, dass er sich wieder umdrehte. Um ihr die Hand zu reichen, sich ihr vorzustellen, wie die Höflichkeit es gebot.
»Wie viel man mit so wenig aussagen kann«, bemerkte er schließlich.
Hannah schaute zu dem Bild hin, doch es wurde von seinem Rücken verdeckt, und sie konnte keine Meinung dazu äußern. Verwirrt holte sie tief Luft.
»Es ist unglaublich«, fuhr er fort, »finden Sie nicht?«
Seine Unverfrorenheit ließ ihr keine andere Wahl, als sich auf das Gespräch einzulassen, und sie trat neben ihn vor das Bild. »Großvater gefällt es nicht besonders.« Ein Versuch, sich unbeschwert zu geben. »Er findet es stümperhaft und noch dazu unanständig. Deswegen versteckt er es hier.«
»Finden Sie es auch stümperhaft und unanständig?«
Sie betrachtete das Bild, als sähe sie es zum ersten Mal. »Stümperhaft vielleicht. Aber nicht unanständig.«
Robbie nickte. »Nichts, was so ehrlich ist, könnte unanständig sein.«
Hannah warf einen verstohlenen Blick auf sein Gesicht, und ich fragte mich, wann sie ihn fragen würde, wer er war und wie er dazu kam, die Gemälde in der Bibliothek ihres Großvaters zu bewundern. Sie öffnete den Mund, brachte jedoch kein Wort heraus.
»Warum hängt Ihr Großvater es auf, wenn er es unanständig findet?«, fragte Robbie.
»Es ist ein Geschenk«, sagte Hannah, froh, eine Frage gestellt zu bekommen, die sie auch beantworten konnte. »Von einem einflussreichen spanischen Grafen, der zur Jagd eingeladen war. Das Bild ist aus Spanien, wissen Sie.«
»Ja«, erwiderte Robbie. »Ein Picasso. Ich habe schon einige seiner Werke gesehen.«
Hannah hob die Brauen, und Robbie lächelte. »In einem Buch, das meine Mutter mir gezeigt hat. Sie ist in Spanien geboren und hat Verwandte dort.«
»Spanien«, wiederholte Hannah träumerisch. »Waren Sie schon mal
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