Geheime Spiel
in Cuenca? In Sevilla? Haben Sie den Alcázar besucht?«
»Nein«, erwiderte Robbie. »Aber nach all den Geschichten, die meine Mutter mir erzählt hat, kommt es mir so vor, als würde ich das Land kennen. Ich hab ihr immer versprochen, irgendwann mal mit ihr hinzufahren. Wie Zugvögel würden wir dem englischen Winter entfliehen.«
»Aber nicht in diesem Winter?«, fragte Hannah.
Er sah sie verwundert an. »Tut mir leid, ich dachte, Sie wüssten Bescheid. Meine Mutter ist tot.«
Während ich den Atem anhielt, ging die Tür auf, und David schlenderte herein. »Wie ich sehe, habt ihr beide euch schon bekannt gemacht«, sagte er mit einem lässigen Grinsen.
David war ein Stück gewachsen, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Oder irrte ich mich? Vielleicht war es auch gar nichts so Offensichtliches, sondern die Art, wie er sich bewegte, seine Haltung, die ihn älter, erwachsener, weniger vertraut wirken ließ.
Hannah nickte und trat verlegen zur Seite. Sie warf Robbie einen Blick zu, aber falls sie vorgehabt hatte, etwas zur Klärung der Situation zu sagen, blieb ihr dazu keine Zeit. Die Tür wurde aufgerissen, und Emmeline kam in die Bibliothek gestürmt.
»David!«, rief sie. »Endlich. Wir haben uns so gelangweilt. Wir können es gar nicht erwarten, das SPIEL zu spielen. Hannah und ich haben uns schon überlegt, wohin wir diesmal …« Sie blickte auf und sah Robbie. »Oh. Guten Tag. Wer sind Sie denn?«
»Robbie Hunter«, sagte David. »Hannah hast du ja schon kennengelernt. Das ist meine kleine Schwester Emmeline. Robbie ist aus Eton mitgekommen.«
»Bleiben Sie übers Wochenende?«, fragte Emmeline mit einem Seitenblick in Hannahs Richtung.
»Robbie hatte über Weihnachten nichts vor, und da dachte ich, er könnte die Feiertage hier mit uns verbringen. «
»Die ganzen Weihnachtsferien?«, wollte Hannah wissen.
David nickte. »Hier draußen können wir doch immer einen zusätzlichen Gast gebrauchen. Sonst gehen wir noch irgendwann vor Langeweile die Wände hoch.«
Selbst auf meinem Beobachtungsposten oben auf der Galerie konnte ich Hannahs Gereiztheit spüren. Ihre Hände lagen auf der chinesischen Kiste. Sie dachte an das SPIEL – Regel Nummer drei: Es gibt nur drei Mitspieler. Fantasiehandlungen, herbeigesehnte Abenteuer lösten sich in Wohlgefallen auf. Hannah schaute David durchdringend an, in ihrem Blick lag ein deutlicher Vorwurf, den er jedoch geflissentlich übersah.
»Seht euch diesen riesigen Baum an«, sagte er betont fröhlich. »Am besten fangen wir schon mal an, ihn zu schmücken, wenn wir bis Weihnachten damit fertig sein wollen.«
Seine Schwestern rührten sich nicht von der Stelle.
»Komm, Emmeline«, sagte er, während er, Hannahs Blick ausweichend, die Schachtel mit dem Christbaumschmuck vom Tisch nahm und auf den Boden stellte. »Zeig Robbie mal, wie man das macht.«
Emmeline schaute Hannah an. Sie war hin- und hergerissen, das war nicht zu übersehen. Sie war ebenso enttäuscht wie ihre Schwester, hatte sich darauf gefreut, das SPIEL zu spielen. Aber sie war auch die Jüngste und gewohnt, das fünfte Rad am Wagen zu sein. Und jetzt hatte David sich ihr zugewandt. Hatte sie als Verbündete auserwählt. Der Versuchung, sich auf Davids Seite
zu schlagen, konnte sie einfach nicht widerstehen. Davids Zuneigung war zu kostbar, um sie aufs Spiel zu setzen.
Sie senkte kokett die Lider, dann lächelte sie David an, nahm die Schachtel mit dem Christbaumschmuck entgegen und begann, gläserne Eiszapfen auszupacken und sie zu Robbies Erbauung einzeln hochzuhalten.
Hannah wusste, wann sie sich geschlagen geben musste. Während Emmeline beim Auspacken vergessener Kostbarkeiten Freudenschreie ausstieß, straffte Hannah ihre Schultern – würdevoll in der Niederlage – und trug die chinesische Kiste aus der Bibliothek. David schaute ihr nach und besaß wenigstens den Anstand, schuldbewusst dreinzublicken. Als sie mit leeren Händen zurückkehrte, sagte Emmeline: »Hannah, stell dir bloß vor – Robbie sagt, er hat noch nie einen Meißner Engel gesehen! «
Steifbeinig ging Hannah zum Teppich und kniete sich hin, während David sich an den Flügel setzte. Er hielt die gespreizten Finger über die Tasten, dann ließ er sie ganz langsam sinken und erweckte das Instrument mit leisen Tonleitern zärtlich zum Leben. Erst als nicht nur der Flügel, sondern auch die Zuhörer eingelullt waren, begann er unvermittelt zu spielen. Ein Musikstück, das für mich inzwischen zu den schönsten
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