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Geheime Spiel

Geheime Spiel

Titel: Geheime Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Morton
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getrunken, bis sie am Ende fast so bleich war wie der arme Kleine, Gott sei seiner Seele gnädig.«
    Mir lief ein Schauer über den Rücken. Ich versuchte, das Bild mit der unscheinbaren, pummeligen Frau in Verbindung zu bringen, die mir viel zu unbedeutend erschien, um so spektakulär leiden zu können. »Aber du hast doch von ›Kindern‹ gesprochen. Was ist mit dem anderen passiert?«
    »Es waren zwei Jungen«, sagte Nancy. »Der andere hieß Adam. Er hat länger gelebt als Timmy, und wir dachten schon, er wäre dem Fluch entkommen. Aber nein, den armen Kerl hat’s auch erwischt. Nur eben später, weil sie auf den besser aufgepasst haben. In der Bibliothek sitzen und lesen war das Aufregendste, was seine Mutter ihm erlaubt hat. Sie wollte auf keinen Fall denselben Fehler noch einmal begehen.« Seufzend zog Nancy die Knie bis unters Kinn. »Aber keine Mutter auf der Welt kann ihren Sohn vor Dummheiten bewahren, wenn der sich erst mal was in den Kopf gesetzt hat.«
    »Was für Dummheiten hat er denn gemacht? Woran ist er gestorben?«

    »Eigentlich ist er nur die Treppe raufgegangen«, sagte Nancy. »Es ist beim Major zu Hause passiert, in Buckinghamshire. Ich war selbst nicht dabei, aber Sarah, das Dienstmädchen, hat es mit eigenen Augen gesehen, weil sie gerade in der Diele Staub gewischt hat. Sie sagt, er ist zu schnell gelaufen, ist ausgerutscht und hingefallen. Das war alles. Anscheinend hat er sich nicht mal besonders wehgetan, denn er ist gleich wieder aufgesprungen und weitergelaufen. Noch am selben Abend ist sein Knie angeschwollen wie eine reife Melone – genau wie Timmys Schulter –, und in der Nacht hat er dann angefangen zu weinen.«
    »Hat es mehrere Tage gedauert?«, fragte ich. »Wie bei dem anderen Jungen?«
    »Nein, bei Adam nicht.« Flüsternd fuhr Nancy fort: »Sarah hat erzählt, der arme Kerl hätte die ganze Nacht lang vor Schmerzen geschrien und nach seiner Mutter gerufen und sie angefleht, ihm zu helfen. In der Nacht hat keiner im ganzen Haus ein Auge zugetan, nicht mal Mr Barker, der Stallbursche, obwohl der fast taub ist. Sie haben alle in ihren Betten gelegen und mussten mitanhören, wie der Junge vor Schmerzen schrie. Der Major war unglaublich tapfer, hat die ganze Nacht vor der Tür gestanden und keine Träne vergossen.
    Und dann, kurz vor Morgengrauen, hat das Schreien ganz plötzlich aufgehört, und im Haus wurde es totenstill. Am nächsten Morgen, als Sarah dem Jungen sein Frühstück bringen wollte, fand sie Jemima quer auf seinem Bett liegen, den Jungen in den Armen. Er sah so friedlich aus wie ein Engel, als würde er schlafen.«
    »Hat sie geweint, so wie bei Timmy?«
    »Diesmal nicht«, sagte Nancy. »Sarah meinte, sie sah beinahe so friedlich aus wie der Junge. Wahrscheinlich war sie froh, dass er nicht mehr leiden musste. Die Nacht
war vorüber, sie hatte sich von ihm verabschiedet und wusste, dass er jetzt an einem besseren Ort war, wo ihm nichts Schlimmes mehr zustoßen konnte.«
    Ich dachte über das nach, was sie gesagt hatte. Dass das Schreien so plötzlich aufgehört hatte. Die Erleichterung im Gesicht seiner Mutter. »Nancy«, sagte ich langsam, »du glaubst doch nicht etwa, dass …?«
    »Ich glaube, es war eine Gnade, dass der Junge nicht so lange leiden musste wie sein Bruder«, fauchte Nancy.
    Wir schwiegen eine Weile, und ich dachte schon, sie wäre eingeschlafen, aber ihr Atem ging immer noch flach, woraus ich schloss, dass sie nur so tat als ob. Ich zog mir die Decke bis an die Ohren, schloss die Augen und versuchte, nicht an schreiende Jungen und verzweifelte Mütter zu denken.
    Als ich fast eingeschlafen war, schnitt Nancys Flüstern durch die kalte Luft. »Und jetzt ist sie schon wieder schwanger. Das Baby kommt im August.« Mit einer plötzlichen Frömmigkeit fuhr sie fort: »Du musst ganz fest für sie beten, hörst du? Vor allem jetzt. Um Weihnachten hört der liebe Gott besonders gut zu. Bitte ihn, dass Jemima diesmal ein gesundes Baby zur Welt bringt.« Sie drehte sich um und zog die Decke mit sich. »Eins, das sich nicht mit seinem eignen Blut ins Grab bringt.«
     
    Weihnachten kam und ging, Lord Ashburys Bibliothek wurde für staubfrei erklärt, und am Morgen nach dem Boxing-Day trotzte ich der Kälte und ging nach Saffron Green, um für Mrs Townsend etwas zu besorgen. Lady Violet plante ein Neujahrs-Lunch in der Hoffnung, Unterstützung für ihr Komitee für belgische Flüchtlinge zu gewinnen. Nancy hatte sie sagen hören, dass sie ihre

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