Geheime Tochter
nur kurze belanglose Gespräche geführt haben.
Es ist später Nachmittag, als Asha zurück in die Redaktion kommt, und obwohl ihr die durchgearbeitete Nacht langsam zu schaffen macht, kann sie noch nicht aufhören. Sie geht die neuen Interviews durch und fängt an zu schreiben. Sie arbeitet, bis das Gerüst ihrer Story steht. Sie überarbeitet das Ganze noch einmal und lehnt sich dann auf ihrem Stuhl zurück. Es fehlen noch mehr Material undein gründliches Lektorat, aber die Geschichte hat Potenzial und konnte nur von ihr erzählt werden. Asha schließt die Augen, und langsam breitet sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Sie ist erschöpft, und es gibt nur einen Menschen, mit dem sie reden möchte. Sie greift zum Hörer und wählt die Nummer ihrer Eltern. Es klingelt viermal, ehe der Anrufbeantworter anspringt. »Mom?«, sagt Asha. »Hi, ich bin’s. Keiner da? Dad?« Sie wartet noch einige Augenblicke, legt dann auf und wählt die Handynummer ihrer Mutter. Auch hier keine Antwort. Komisch. Wo könnte sie stecken, um fünf Uhr nachmittags mitten in der Woche? Asha legt auf und lehnt sich in dem Drehstuhl zurück, dann reckt sie die Arme hoch über den Kopf und muss herzhaft gähnen. Sie spürt die Müdigkeit bis in die Knochen. Sie wird morgen noch mal anrufen, wenn sie etwas geschlafen hat.
52
So gut ich mich erinnern kann
Menlo Park, Kalifornien – 2005
Krishnan
Krishnan läuft mit dem Telefon in der Hand auf und ab, wählt neu, legt wieder auf. Er setzt sich an den Küchentisch. Das ist doch lächerlich. Wieso bin ich so nervös? Er hat fast den ganzen Rückflug von seiner Tagung in Boston überlegt, was er Somer sagen will, und jetzt bringt er es nicht mal über sich, sie anzurufen. Sein Koffer steht ungeöffnet in der Diele, und ein Berg Post auf der Arbeitsplatte in der Küche harrt seiner Aufmerksamkeit. Seit seiner Ankunft vom Flughafen hat er lediglich den Anrufbeantworter abgehört, enttäuscht, dass keine Nachricht von Somer dabei war.
Er holt tief Luft und wählt erneut. Sie hebt nach dem zweiten Klingeln ab.
»Hi, ich bin’s«, sagt er. »Ich wollte bloß Bescheid sagen, dass ich wieder da bin.«
»Oh, schön. Dann sehen wir uns Sonntag?«, sagt Somer. Zusätzlich zu den wöchentlichen gemeinsamen Telefonaten mit ihrer Tochter hat Krishnan Asha ein paarmal allein angerufen, um sie bei der Suche nach ihren leiblichen Eltern moralisch zu unterstützen. Als er das letzte Mal anrief, war Asha gerade von dem Waisenhaus zurückgekommen, aber sie gab sich zugeknöpft und antwortete nur ausweichend auf seine Fragen. Er merkte, dass ihn die Sache zum ersten Mal beunruhigte und er sich fragte, ob Ashas Entdeckungen sich irgendwie nachteilig auf ihr Verhältnis zueinander auswirken würden. Auf einmal konnte er sich in Somer hineinversetzen, ihre Befürchtungen nachvollziehen. Am kommenden Wochenende wird eines ihrer letzten Telefonate stattfinden, denn in wenigen Wochen kommt Asha wieder nach Hause. Krishnan hat keine Ahnung, womit sie zurückkehren wird und was das für sie drei als Familie bedeuten mag. Er möchte sich unbedingt vorher mit Somer versöhnen. Die Sehnsucht und Reue, die er die ganze Zeit empfunden hat, seit sie getrennt sind, sieden so kurz vor Ashas Rückkehr nicht mehr nur leise vor sich hin, sondern kochen brodelnd in ihm. Jetzt, mit fünfundfünzig, macht er seiner Frau wieder unbeholfen den Hof.
»Ja. Ähm, hör mal. Ich habe eben die Fotos von meiner Indienreise abgeholt und ich dachte, du würdest sie vielleicht gern sehen.« Er holt wieder tief Luft. »Vielleicht kann ich auf einen Sprung vorbeischauen … morgen Abend … wenn du nichts vorhast? Wir könnten zusammen essen?« In der darauf folgenden Pause schließt Krishnan fest die Augen und versucht, sich irgendetwas Besseres einfallen zu lassen.
»Kris, ich habe morgen nach der Arbeit einen Termin in der Stadt«, sagt Somer, hält dann kurz inne, ehe sie weiterredet. »Ich hatte letzte Woche eine auffällige Mammografie. Ist wahrscheinlich falscher Alarm, aber ich habe trotzdem einen Termin für eine Biopsie gemacht, nur sicherheitshalber.«
»Oh.« Krishnan lässt die Nachricht auf sich wirken. »Na, wie wär’s dann, wenn ich dich hinfahre? Dann könnten wir anschließend was essen.«
Wieder eine lange Pause, ehe sie antwortet. »Okay. Mein Termin ist um halb fünf.«
»Dann hole ich dich um halb vier ab.« Er legt auf und sucht in dem Haufen Krimskrams auf der Arbeitsplatte herum, bis er die Kamera findet. Er
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