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Geheime Tochter

Geheime Tochter

Titel: Geheime Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shilpi Somaya Gowda
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ihrer beider Haus gefahren ist, wo er derzeit allein wohnt. Sie sitzen in der Einfahrt im Auto, wie ein Teenagerpärchen. Er stellt den Motor aus. »Hör mal, möchtest du … möchtest du vielleicht hier schlafen?«, fragt er und kommt sich seltsam schüchtern vor. »Ich weiß, wir haben noch viel zu –«
    Sie unterbricht ihn, indem sie zwei Finger auf seine Lippen legt, und lächelt. »Ja.«
    Am nächsten Morgen öffnet Kris die Augen und sieht Somers sonniges Haar übers Kissen verteilt. Er seufzt und spürt den jähen Gefühlsrausch, den er noch von damals kennt, als er frisch verliebt war. Er rollt sich aus dem Bett, vorsichtig, um sie nicht zu wecken. Als er die Treppe hinuntergeht, fällt ihm ein, dass der Kühlschrank noch leer ist, weil er ja eine Woche weg war, und er überlegt, etwas fürs Frühstück zu kaufen. Während er die Kaffeekanne füllt, bemerkt er das blinkende rote Lämpchen am Anrufbeantworter. Die Nachricht ist von seiner Mutter in Indien. Sie sagt nicht mehr, als dass er zurückrufen soll, doch trotz der knisternden Verbindung weiß Krishnan, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist.

53
Familiensache
    Mumbai, Indien – 2005
Asha

    Asha schläft im Taxi von der Redaktion nach Hause ein, sodass der Fahrer sie wecken muss, als sie da sind. Sie bezahlt und betritt das Gebäude. Sie ist jetzt seit sechsunddreißig Stunden auf den Beinen, wovon sie die meiste Zeit nur verschwommen in Erinnerung hat – schreiben, filmen, redigieren, Bilder von den Frauen in Dharavi, die sie immer wieder vor sich sieht. Sie nimmt sich vor, ihre Mom am Morgen anzurufen. Asha gähnt, klopft an die Wohnungstür und wartet auf Deveshs vertraute Schritte. Sie zieht Sanjays Karte aus der Tasche. Versprochen ist versprochen. Auch ihn wird sie am Morgen anrufen, jetzt, wo sie endlich die ganze Geschichte kennt. Nachdem sie einige Augenblicke vergeblich gewartet hat, obwohl sie Geräusche aus der Wohnung hört, dreht sie versuchsweise den Türknauf und merkt, dass nicht abgeschlossen ist. Drinnen stellt sie ihre Tasche ab, macht einen Schritt über die Ansammlung von chappals in der Diele und geht Richtung Wohnzimmer, aus dem sie leises Stimmengemurmel hört. Wer kommt denn um diese Zeit zu Besuch?
    Dadima sitzt auf dem Sofa, flankiert von Frauen, die alle bekümmert aussehen. Dadima hat den Kopf gesenkt, doch noch ehe Asha ihr Gesicht sieht, weiß sie, dass irgendetwas passiert sein muss. »Das ist Asha, meine Enkelin aus Amerika«, sagt Dadima, als sie aufblickt. »Entschuldigtmich bitte einen Moment.« Sie steht auf, schlurft zu Asha hinüber und nimmt ihre Hand.
    »Ja, ja, natürlich«, sagen die Frauen wie im Chor und wackeln mit den Köpfen.
    Dadima geht leise zu dem kleinen Zimmer, das Asha seit fast einem Jahr als ihres betrachtet. Sie setzt sich aufs Bett und bedeutet Asha, neben ihr Platz zu nehmen. » Dhikri , für deinen dadaji ist die Zeit gekommen. Er ist heute früh friedlich im Schlaf von uns gegangen.«
    Asha schlägt die Hand vor den Mund. »Dadaji?« Sie blickt sich im Zimmer um, schaut zur Tür. »Wo …?«
    Dadima nimmt sachte ihre Hände. » Beti , sie haben seinen Körper weggebracht. Dein dadaji ist heute Morgen ganz friedlich verschieden.«
    Heute Morgen, während ich … gearbeitet habe? Dadimas Stimme ist fest, aber ihre geröteten Augen verraten Asha, wie es wirklich um sie steht. Sie blickt nach unten auf die Hände in ihrem Schoß, zwei ineinander verschlungene Paare: Dadimas knochige Finger mit grünlichen Adern, die unter der schlaffen Haut durchscheinen, und ihre eigenen, straff und voller Jugend. Während Tränen langsam die so unterschiedlich braune Landschaft ihrer Hände wässern, verstärkt Dadima den Druck ihrer Finger und flüstert heiser: »Ich muss dich um etwas bitten, Asha. Dein Vater wird nicht da sein, um die Rolle des ältesten Sohnes zu erfüllen, daher musst du seinen Platz einnehmen. Du musst den Scheiterhaufen bei der Einäscherungszeremonie deines dadaji anzünden. Ich habe mit deinen Onkeln gesprochen, und sie werden an deiner Seite stehen, aber ich möchte, dass du das Anzünden übernimmst.« Sie stockt kurz, ehe sie weiterspricht. »Das ist deine Pflicht deiner Familie gegenüber«, sagt sie mit Bestimmtheit, um eventuellen Einwänden vorzubeugen.

    Asha weiß ziemlich genau, dass das nicht stimmt. Ja, es ist die Rolle des ältesten Sohnes, den Familienvorsitz zu übernehmen, wenn der Patriarch gestorben ist, doch wenn der Älteste nicht da ist, können auch andere

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