Geheime Tochter
nie eine Stunde verpasst.« Krishnan nickt, traut der Kraft seiner Stimme nicht. »Hey, danke, dass du mitgekommen bist«, sagt sie und nimmt ihre Handtasche auf den Schoß. »Ich bin echt froh, dass du hier bist.«
»Ist doch klar. Wo soll ich denn sonst sein?« Er drückt ihr das Knie und lässt seine Hand dort liegen.
»Wann bekommst du das Ergebnis?«
»Sie wollen es dringlich machen. Vielleicht schon in ein oder zwei Tagen.«
Krishnan ist verblüfft über die plötzliche Gefühlswallung, die ihn überkommt, über den Kloß, den er in der Kehle hat. »Komm, lass uns von hier verschwinden«, sagt er, legt einen Arm um ihre Schultern und zieht sie an sich. »Ich lade dich zum Essen ein, wo immer du möchtest in dieser wunderbaren Stadt. Du hast freie Auswahl.«
Es ist ein seltener Frühlingstag in San Francisco, sonnig und klar, sodass sie von ihrem Klapptisch draußen vordem Red’s die Bay Bridge sehen können. Somers Haare, die sie sonst meist nach hinten gebunden hat, umwehen in der sanften Brise ihr Gesicht.
»Schmeckt nicht so gut, wie ich es in Erinnerung hatte«, sagt sie und hält sich den in Folie eingepackten Burger vors Gesicht. Sie lächelt, und das lässt sie zehn Jahre jünger aussehen.
»Ich glaube, unser Geschmack hat sich in den letzten Dekaden ein wenig verändert«, sagt Kris.
»Von unserem Stoffwechsel ganz zu schweigen. Ich wette, diese Pommes landen morgen früh direkt auf meinen Hüften.« Sie lacht unbeschwert.
»Du siehst umwerfend aus, Schatz«, sagt er.
»Du meinst, gesetzt den Fall, ich habe keinen Krebs?«
»Nein, ich meine, du siehst wirklich umwerfend aus. Total durchtrainiert, fit. Du machst Yoga?«
»Ja, und meine Mom inzwischen auch. Nach ihrer letzten OP hatte sie Probleme, den Arm anzuheben und Sachen zu tragen. Sie war richtig frustriert. Du weißt ja, dass sie immer gern alles selbst machen will«, sagt Somer. »Also habe ich sie ein paarmal mit zu meinen Yoga-Stunden genommen und ihr ein paar Übungsvideos für zu Hause besorgt. Das Narbengewebe ist besser verheilt, ihr Bewegungsradius hat sich vergrößert, und sie hat jetzt viel mehr Energie.«
»Das ist großartig.«
»Ich war selbst erstaunt, wie gut die Wirkung war, und ihr Onkologe auch. Ich habe für die Zeitschrift Stanford Women’s Health einen Artikel über die Vorteile von Yoga nach einer Brustkrebsbehandlung geschrieben. Das Krebszentrum hat mich gefragt, ob ich nicht Lust hätte, Workshops zu geben. Ich überlege, ob ich Mom nicht bitte, herzukommen und mir dabei zu assistieren. Sie kanndie Yoga-Positionen vorführen, während ich die PowerPoint-Präsentation mache.«
»Sie kann froh sein, dass sie dich hat«, sagt Krishnan. »Wir können alle froh sein.« Er lächelt Somer an, die starke, intelligente, selbstbewusste Frau, in die er sich einmal verliebt hat und die jetzt eine Seite zeigt, die er lange nicht mehr gesehen hat. Hat sie sich in den letzten paar Monaten so sehr verändert, oder bin ich mit den Jahren einfach nur blind für sie geworden? Aber nicht bloß Somer kommt ihm verändert vor. Ihr ganzer Umgang miteinander ist irgendwie anders. Ob es an der Zeit liegt, die sie getrennt sind, daran, dass Asha weit weg ist, oder an der Angst davor, was die Biopsie ergibt, er hat das Gefühl, als würde auf einmal ein helles Licht auf sie beide scheinen, ein Licht, das alles offenlegt, was sie jahrelang verdrängt haben. Und genau wie auf seinem Operationstisch ist die klare Sicht auf die Wahrheit, so unangenehm sie auch sein mag, der erste Schritt zur Heilung.
Somer lächelt und spielt mit dem Anhänger an ihrer Halskette, was ihn an die Zeit erinnert, als sie offen miteinander flirteten. Und auf einmal denken sie nicht mehr an Krankheit, Tod und Ängste, sondern reden zum ersten Mal, seit sie sich getrennt haben, ausführlich über das, was sie in der Zeit alles so gemacht haben. Somer erzählt ihm von ihrer Radtour in Italien und den Personalveränderungen an der Klinik. Er erzählt von seinem anstehenden Turnier im Tennisklub und dem kaputten Durchlauferhitzer zu Hause. Sie sprechen geflissentlich nicht über ihre Tochter. Krishnans Fotos bleiben unangetastet in seinem Auto. Sie sitzen draußen, bis die allgegenwärtigen Möwen die Reste von ihrem Abendessen vertilgt haben, bis die Luft kühl wird und blinkende Lichter die Umrisse der Brücke erhellen.
»Wir sollten langsam gehen.« Somer schlingt fröstelnd die Arme um sich.
Die Rückfahrt vergeht schnell, und Kris merkt, dass er zu
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