Geheime Tochter
fällt Krishnan auf, wie muskulös ihre Beine unter dem knielangen Rock sind. Er spürt den jähen Drang, zu ihr zu gehen, ihr Haar anzuheben und sie auf den Nacken zu küssen. Stattdessen schlägt er die Beine übereinander und nimmt sich eine Zeitschrift. Nach einigen Minuten setzt sie sich neben ihn und späht ihm über die Schulter.
» Good Housekeeping? Ich wusste gar nicht, dass du Rezepte für ›Hähnchengerichte, wenn’s mal schnell gehen muss‹ suchst«, sagt sie, als sie sieht, auf welchen Artikel er starrt.
Er lässt die Zeitschrift sinken. »Ich bin wohl mit den Gedanken woanders.«
»Zeig mir die Bilder«, sagt sie.
»Bilder?«
»Von deiner Indienreise.«
»Ach so. Ich glaube, die habe ich im Auto gelassen.«
»Dr. Thakkar?«, ruft eine Krankenschwester ins Wartezimmer.
Krishnan blickt ruckartig auf, doch Somer legt sanft ihre Hand auf seine. »Diesmal nicht, Dr. Thakkar.« Sie lächelt, tätschelt ihm die Hand und folgt der Schwester.
Während er wartet, erlaubt Krishnan seinen Gedanken, zu den schlimmsten Szenarien zu schweifen. Mastektomie, Bestrahlung, Chemotherapie. Die Überlebenschancen bei Brustkrebs sind verhältnismäßig gut, aber als Arzt weiß Krishnan nur allzu genau, wie ungerecht und grausam Krankheiten zuschlagen können. Unausstehliche Patienten trotzen allen Wahrscheinlichkeiten, während die liebenswürdigen, die Plätzchen für ihn backen oder ihm Tomaten aus dem eigenen Garten mitbringen, anscheinend immer zu früh sterben. Sterberaten wenden das Gesetz des Durchschnitts an, ohne Rücksicht darauf, wer was verdient hat und wer nicht. Das darf nicht passieren. Nicht ihr. Nicht jetzt.
Die letzten paar Monate waren schwer. Zu Hause, wo er sich so wenig wie möglich aufhält, erinnert so vieles an ihr gemeinsames Leben. Er hätte nie gedacht, dass er einmal das mittelmäßige Essen vermissen würde, das Somer immer in der Küche auf dem Herd hatte, wenn er nach Hause kam, oder die Art, wie ihre Klamotten abendsimmer kreuz und quer auf dem Bett herumlagen. Und morgens, wenn er in aller Frühe aufstand, weil er zu einer OP musste, duschte und sich anzog, fehlte ihr Körper auffällig im Bett. Es war niemand da, dem er einen Kuss geben konnte, ehe er sich auf den Weg in die Kälte des Operationssaals machte, nichts, worauf er sich nach Feierabend freuen konnte. Ohne ihre Gegenwart fühlen sich sein Zuhause und seine Arbeit inzwischen gleichermaßen steril an.
Er steht auf und tigert auf und ab, geht so oft an der Empfangstheke vorbei, dass die Frau, die dahintersitzt, nicht mehr jedes Mal erwartungsvoll aufblickt. In Somers Handtasche, die sie bei ihm gelassen hat, klingelt ihr Handy. Er mag das nicht, diese Warterei. Er denkt an die unzähligen Male, die er in ein Wartezimmer gegangen ist, um mit Angehörigen zu sprechen, um eine schreckliche Nachricht zu überbringen. Erst kürzlich hat er einer Frau, die nicht viel älter war als er, sagen müssen, dass ihr Mann hirntot ist. Er redete ihr gut zu, riet ihr, Angehörige zu benachrichtigen, sich zu verabschieden, solange er beatmet wurde.
»Verabschieden? Er lebt doch noch, oder?«, erwiderte die Frau mit absoluter Überzeugung.
Krishnan hat nie verstanden, warum manche Angehörige von Patienten auch dann noch nicht loslassen wollen, wenn bei den Erkrankten keine Gehirnfunktion mehr messbar und der Körper nur noch eine leere Hülle ist. Aber jetzt kann er es verstehen. Weil es einfach so passiert ist, von einer Sekunde auf die andere. Gerade noch hast du auf der Fahrt im Auto mit deiner Frau gelacht und im nächsten Moment hast du im Wartezimmer eines Krankenhauses eine schreckliche Diagnose erfahren. Von einer Sekunde auf die andere. Das Gehirn kannselbst mit all seinen Nervenbahnen und Funktionen, mit all den Geheimnissen, vor denen er die größte Achtung hat, eine solche Nachricht nicht verkraften. Diese Angehörigen sehen den Menschen, den sie lieben, nach wie vor irgendwo da drin, inmitten der Schläuche und Apparate, die ihn am Leben halten. Sie klammern sich an die Träume, die sie hatten, zum Beispiel, auf die Hochzeit ihrer Tochter zu gehen, ihr Enkelkind in den Armen zu halten, zusammen alt zu werden. Jetzt weiß er, dass es ihm ebenso schwerfallen würde, Somer loszulassen, selbst wenn sie das wollte.
Sie kommt zurück ins Wartezimmer und setzt sich neben ihn. »Alles gut gelaufen?«, fragt er. Sie nickt. »Dein Handy hat geklingelt«, sagt er.
»Oh. Wahrscheinlich meine Yoga-Lehrerin. Ich habe dienstags noch
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