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Geheime Tochter

Geheime Tochter

Titel: Geheime Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shilpi Somaya Gowda
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sein, vielleicht sogar verheiratet. Über die Frage, ob ihre Tochter inzwischen selbst Kinder haben könnte, erlaubt sich Kavita nur ganz kurz zu spekulieren, nur so lange, wie die Fahrt mit dem Aufzug dauert. Sobald die Türen aufgehen, zwingt sie ihren Verstand zu einem Kurswechsel. Sie hat gelernt, in ihrem Alltag Platz für derlei Gedanken zu schaffen, die sie ohne Vorwarnung ereilen, ohne sich von ihnen gänzlich vereinnahmen zu lassen. Kavita hat vor langer Zeit erkannt, dass sie einen Weg finden musste, in der Gegenwart zu leben und zugleich insgeheim die Vergangenheit zu ehren, mit dem Ehemann und dem Kind zu leben, das sie hat, ohne sie wegen dem, was verloren ist, abzulehnen.
    Die Aufzugtüren öffnen sich, der Aufzugführer tritt hinaus, um Jasu und Kavita aussteigen zu lassen. Als sie den Korridor hinuntergehen, befällt Kavita ein ungutes Gefühl. »Hörst du das?« Sie blickt Jasu an, deutet mit dem Kinn in Richtung ihrer Wohnung am Ende des Gangs.
    Jasu geht weiter, lässt den Schlüsselbund an seinem Zeigefinger schwingen. »Was? Vijay hat wahrscheinlich den Fernseher laufen. Ich weiß nicht, wie er bei dem Krach einschlafen kann.«
    Kavita ist nicht überzeugt und verlangsamt ihre Schritte. Als sie ihre Wohnung erreichen, wissen beide, dass irgendetwas faul ist. Die Tür steht einen Spaltbreit offen, und die lauten Stimmen in der Wohnung kommen eindeutig nicht aus dem Fernseher. Jasu streckt den Arm nach hinten, um Kavita zurückzuhalten, und schiebt dann die Tür mit der Schuhspitze auf. Er schlüpft hinein, und sie folgt ihm rasch. Als Erstes sehen sie das Chaos: die vertrauten Einzelteile ihres Lebens überall zerstreut, als hätte Kali, die Göttin der Zerstörung, sie heimgesucht.
    » Bhagwan «, sagt Jasu flüsternd, während er einen Schritt über die Glasscherben des gerahmten Porträts seines verstorbenen Vaters macht, das einmal die Diele schmückte. Dazwischen liegen zertretene Ringelblumenblüten von der Girlande, die Kavita jeden Morgen an das Bild gehängt hat. Die lauten Stimmen kommen aus dem Zimmer am Ende des Flurs, Vijays Zimmer. Im Wohnzimmer ist der Tisch umgekippt. Die Couchpolster sind mit einem Messer aufgeschlitzt worden, und die weiße Synthetikfüllung quillt heraus. Wie in Trance geht Kavita in die Küche und sieht, dass die Jutesäcke mit Basmatireis und Linsen das gleiche Schicksal erlitten haben wie die Couch, denn ihr Inhalt hat sich auf den Betonboden ergossen. Sämtliche Schränke stehen offen, und eine der Türen hängt schief in den Angeln.
    »Kavita, tu, was ich sage«, flüstert Jasu heiser aus dem Wohnzimmer. »Geh nach nebenan und warte da. Los,schnell!« Er bugsiert sie aus der Wohnung, ehe sie auf die Idee kommt zu fragen, ob sie die Polizei rufen soll. Sie klopft bei den Nachbarn, aber es macht niemand auf. Sie wartet ein paar Minuten auf dem Korridor, geht dann zurück in ihre Wohnung und den Flur hinunter zu Vijays Zimmer, wo sie draußen an der offenen Tür verharrt. In dem Zimmer sind zwei Männer in hellbraunen Uniformen, lathis in der Hand. Wer hat die Polizei gerufen? Wo kommen die auf einmal her? Einer der Polizisten befragt Jasu. Sie tritt neben die offene Tür, damit sie nicht zu sehen ist.
    »Mr Merchant, ich frage Sie jetzt noch einmal und ich rate Ihnen, die Wahrheit zu sagen. Wo bewahrt Vijay seinen Vorrat auf?« Der Beamte stößt seinen lathi gegen Jasus Schulter.
    »Sahib, ich sage die Wahrheit. Vijay hat eine Botenfirma. Er ist ein guter Junge, sehr ehrlich. Er würde so etwas, was Sie ihm vorwerfen, niemals tun.« Jasu blickt treuherzig von dem Bett, auf dem er sitzt, zu den Männern hoch. Erst da bemerkt Kavita, dass die Sprungfedern aus einem großen diagonalen Riss in der Matratze ragen. Wonach suchen die?
    »Okay, Mr Merchant. Wenn Sie, wie Sie behaupten, nicht wissen, was für Geschäfte Ihr Sohn macht, dann können Sie uns wenigstens sagen, wo wir ihn finden. Hä? So spät am Abend? Wenn er doch so ein guter Junge ist, wieso ist er dann nicht zu Hause?«
    Kavita späht um den Türpfosten herum. So ängstlich hat sie Jasu seit der Polizeirazzia in den Slums nicht mehr erlebt. »Sahib, es ist Samstagabend, noch nicht mal elf Uhr. Unser Sohn ist mit Freunden ausgegangen, wie die meisten jungen Männer.«
    »Freunde, hä?« Der Beamte schnaubt. »Sie sollten Ihren Sohn und seine Freunde genauer im Auge behalten,Mr Merchant.« Er stößt Jasu wieder gegen die Schulter. »Bestellen Sie ihm, dass wir ihn beobachten.« Der Polizist nickt

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