Geheime Tochter
fragt sie, wobei ein Anflug von Zorn in ihrer Stimme mitschwingt.
Somer reibt sich die Stirn. »Asha, du kannst uns nicht einfach damit überfallen und erwarten, dass wir in Jubel ausbrechen. Du kannst so eine Entscheidung nicht treffen, ohne uns nach unserer Meinung zu fragen.« Sie blickt Kris an, erwartet, ihre eigene Verärgerung in seinem Gesicht gespiegelt zu sehen. Aber sie entdeckt nichts von dem Schock, den sie empfindet, nichts von der Angst, die sie nicht mehr klar denken lässt. Wie kann dich das so kalt lassen?
Und in dem Moment kommt ihr die Erleuchtung. Er wusste Bescheid .
Das Puzzle liegt unvollendet auf dem Küchentisch, während Somer sich oben im Dunkeln auszieht. Im Bad dreht sie den Hahn am Waschbecken auf und lauscht auf das Geräusch der Schlafzimmertür. Sie schrubbt sich das Gesicht mit einer Heftigkeit, von der ihr Hautarzt ihr abgeraten hat. Als Kris kurz darauf ins Schlafzimmer kommt, geht sie wutschnaubend zu ihm und setzt sich aufs Bett.
»Dann hast du also kein Problem damit?«
»Na ja.« Er steht an der Kommode und nimmt seine Armbanduhr ab. »Ich finde die Idee gar nicht schlecht.«
»Gar nicht schlecht? Die Uni zu schmeißen und ganz allein um den halben Erdball zu reisen? Das findest du gar nicht schlecht?«
»Sie schmeißt die Uni doch gar nicht. In einem Jahr ist sie wieder da. Und dann macht sie ihren Abschluss. Bloß ein oder zwei Semester später, na und? Und sie wird drüben nicht allein sein. Sie wird meine Familie haben.« Kris zieht sein Hemd aus der Hose und knöpft es auf. »Hörmal, Schatz, ich denke wirklich, das könnte gut für sie sein. Dann kommt sie mal weg von den geisteswissenschaftlichen Dozenten, die ihr weismachen, Journalismus sei ein glamouröser Beruf. Mein Vater kann sie mit ins Krankenhaus nehmen.«
»Das bezweckst du also damit? Du glaubst noch immer, du kannst eine Ärztin aus ihr machen?« Somer schüttelt den Kopf.
»Sie kann es sich noch immer anders überlegen. Da drüben wird sie eine ganz andere Seite der Medizin kennenlernen.«
»Warum akzeptierst du sie nicht einfach so, wie sie ist?«, fragt Somer.
»Und warum du nicht?«, kontert er in einem ruhigen, aber trotzdem vorwurfsvollen Ton.
Für einen Moment wird es still, während sie ihn anstarrt. »Was soll das heißen?«
»Ich meine, sie will nach Indien. Sie ist alt genug, das zu entscheiden. Sie kann meine Familie kennenlernen, ihre indische Kultur.«
Somer steht auf und geht zurück ins Bad. »Ich fass es nicht. Du bist so ein Heuchler. Wenn sie gesagt hätte, sie würde woanders hinwollen als nach Indien, würdest du dich genauso aufregen wie ich.« Sie wirbelt zu ihm herum. »Hast du davon gewusst?«
Er reibt sich mit den Fingern über die Augen und seufzt schwer.
»Kris? Ja oder nein?« Sie spürt, wie sich ihr Magen verkrampft.
»Ja!« Er wirft die Hände in die Luft. »Ja, okay? Sie brauchte eine Unterschrift auf dem Formular und wollte sich nicht unnötig mit dir anlegen, für den Fall, dass sie das Stipendium gar nicht bekommen hätte.«
Somer bindet den Gürtel ihres Bademantels zu und schlingt die Arme um sich, weil ihr plötzlich kalt ist. Sie schließt die Augen und lässt die Neuigkeit auf sich wirken, das Schuldeingeständnis. Sie schüttelt den Kopf. »Wie konntest du nur? Wie konntest du hinter meinem Rücken –« Sie verstummt, unfähig, weiterzusprechen.
Kris setzt sich in den Sessel in der Ecke, und seine Stimme wird sanfter. »Es ist ein Teil von ihr, Somer. Genau wie es ein Teil von mir ist. Das ist eine Tatsache.« Einige Augenblicke herrscht Stille im Zimmer, bevor er weiterredet. »Wovor hast du Angst?«
Sie zwingt den Kloß in ihrem Hals nach unten und zählt die Gründe auf. »Ich habe Angst davor, dass sie das Studium abbricht und allein um die halbe Welt reist. Ich habe Angst davor, dass wir nicht mitkriegen, wie es ihr geht, wenn sie so weit weg ist.« Somer fährt sich mit den Händen übers Gesicht und dann durchs Haar, ehe sie einen neuen Anlauf nimmt. »Ich mache mir Sorgen um ihre Sicherheit, wenn sie als junge Frau da drüben in die Slums geht …« Sie setzt sich wieder aufs Bett und drückt sich ein Kissen an die Brust. Kris sagt kein Wort und bleibt in dem Sessel sitzen, den Kopf in eine Hand gestützt.
Nach etlichen Augenblicken der Stille räuspert sie sich und spricht weiter. »Glaubst du, sie wird sich auf die Suche machen? Nach … ihnen?« Sie bringt es nicht fertig, das Wort Eltern zu benutzen. Es schreibt Leuten, deren
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