Geheime Tochter
Kavita knapp zu, als er und sein Kollege an ihr vorbeigehen.
Später in der Nacht wird Kavita von Jasus Schreien aus dem Schlaf gerissen. Sie dreht sich zu ihm um und sieht, wie er versucht, sich aufzusetzen, die Finger in das Laken krallt, das ihn bedeckt, und » Nai, nai! Gib es mir!« schreit.
Sie berührt ihn zunächst nur leicht an der Schulter – »Jasu?« – und dann rüttelt sie ihn. »Jasu? Was hast du denn? Jasu?«
Er wird ruhiger und schaut sie an. Seine glasigen Augen scheinen nichts zu erkennen, als wüsste er nicht, wer sie ist. Nach einem Moment blickt er nach unten auf seine geöffneten Hände. »Was habe ich gesagt?«
»Du hast gesagt, ›nein‹ und ›gib es mir‹. Sonst nichts, wie immer.«
Er schließt die Augen, atmet tief durch und nickt. » Achha . Tut mir leid, dass ich dich geweckt hab. Schlaf weiter.« Sie nickt, streichelt ihm die Schulter und legt sich dann wieder hin. Sie fragt schon gar nicht mehr nach dem Albtraum, den er hatte. Er erzählt ihn ihr ohnehin nie.
32
Spannungswandel
Menlo Park, Kalifornien – 2004
Asha
Asha sitzt im Schneidersitz auf ihrem Bett, umringt von den vielen Dingen, die sie packen muss. In einer Ecke des Zimmers steht der größte Koffer, den sie und ihr Vater bei Macy’s finden konnten, knapp einen Meter hoch. Auf dem Flur draußen vor ihrem Zimmer steht ein zweiter von derselben Größe. Ihr Flug nach Indien ist in zwei Tagen. Normalerweise würde sie mit dem Packen bis zur letzten Minute warten, aber sie hat sich vor zwei Stunden hierher zurückgezogen, als ihr Vater ins Krankenhaus gerufen wurde, um ein Aneurysma zu operieren.
Sie ist daran gewöhnt, dass ihr Vater plötzlich wegmuss, wenn er Bereitschaftsdienst hat. Er musste weg, als sie ihren achten Geburtstag auf der Bowlingbahn feierte, beim Buchstabierwettbewerb in der sechsten Klasse und bei zahllosen anderen Anlässen. Als sie klein war, nahm sie das persönlich, brach in Tränen aus, wenn ihr Vater mitten beim Abendessen plötzlich aufstand und ging. Sie dachte immer, sie hätte irgendetwas falsch gemacht. Ihre Mom musste ihr dann erklären, dass es zur Arbeit ihres Vaters gehörte, Menschen in Notfällen zu helfen, und dass das jederzeit passieren konnte. Schließlich wurde es zum festen Bestandteil des Familienmusters: Asha lernte, immer gleich aufzulegen, wenn sie telefonierte und ihr der Signalton anzeigte, dass ein zweiter Anruf kam, und wenn siean seinen Bereitschaftsabenden alle drei zusammen ausgingen, fuhren sie mit zwei Autos. Inzwischen stört es sie nicht mehr. Die Dringlichkeit der Arbeit ihres Vaters erinnert sie an ihre eigene Arbeit beim Daily Herald – der Druck; das ständige Bewusstsein, dass einem die Zeit davonläuft, die Notwendigkeit, absolut konzentriert zu bleiben. Sie liebt das Gefühl und den damit verbundenen Adrenalinrausch, der sie zur Höchstform auflaufen lässt.
Dennoch, in den letzten paar Monaten konnte allein die Anwesenheit ihres Vaters die knisternde Spannung zwischen ihr und ihrer Mutter in Schach halten. Wenn ihr Vater da ist, kann sie vorübergehend vergessen, wie enttäuscht ihre Mutter über ihre Entscheidung ist, nach Indien zu gehen, welche Ängste und Sorgen diese Reise bei ihr auslöst. Asha hält es kaum noch aus. Je mehr ihre Mutter versucht, sich an sie zu klammern, sie zu kontrollieren, desto mehr möchte Asha sich entziehen. In der Gegenwart ihrer Mutter hat sie stets das Gefühl, jeden Moment zu explodieren, und deshalb hat sie sich, als ihr Vater zu einer Notoperation ins Krankenhaus gerufen wurde, zurückgezogen, um zu packen.
Sie inspiziert die diversen Stapel, die in ihrem Zimmer verteilt sind. Auf dem Fußboden liegt ein großer Haufen Kleidung, manches davon noch schmutzig. Auf ihrem Schreibtisch ist Material für ihr Projekt: ihr Laptop, Notizbücher, Forschungsakten, Videokamera. Auf der Ecke ihres Bettes liegt eine Tasche mit Reisezubehör, die sie irgendwann letzte Woche in ihrem Zimmer vorgefunden hat. Auch ohne einen erklärenden Zettel wusste sie, dass die Sachen von ihrer Mutter waren: Sonnencreme, extrastarkes Mückenschutzmittel, Malariatabletten plus Notfallmedikamente in Mengen, die ausreichen würden, um ein kleines Dorf zu behandeln. Diese anonymeSorgentasche ist eines der wenigen Zugeständnisse, die ihre Mutter im Hinblick auf die Indienreise gemacht hat. Und schließlich sind da noch die Sachen, die sie mitnehmen will, um sich auf dem langen Flug die Zeit zu vertreiben: DVD – Player, iPod, ein
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