Geheime Tochter
einzige Verbindung zu Asha eine biologische ist, zu viel Bedeutung zu. In Somers Kopf sind sie im Laufe der Jahre zu schattenhaften Gestalten geworden – namenlos und gesichtslos, entfernt, aber nie weit weg. Sie weiß, dass keine Gefahr besteht, sie könnten eines Tages auftauchen und eine Rolle in Ashas Leben verlangen. Es ist vielmehr Asha, die ihr die ganze Zeit Sorgen bereitet hat. Ständighat sie in der Angst gelebt, ihre Tochter könne eines Tages an dem Punkt ankommen, wo sie mit ihr oder Kris unzufrieden ist, und sich auf die Suche nach mehr machen. Somer hat sich bemüht, eine tadellose Mutter zu sein, aber sie fürchtet noch immer, dass all ihre Liebe zu ihrer Tochter den Verlust nicht ausgleichen kann, den sie als Baby erlitten hat.
»Nach wem? Ach so.« Kris reibt sich die Augen und sieht sie an. »Ja, könnte sein. Es wird ganz schön schwierig für sie sein, sie in einem Land wie Indien ausfindig zu machen, aber durchaus möglich, dass sie es versucht. Sie ist wahrscheinlich neugierig. Das wäre aber doch nicht schlimm, oder? Du kannst doch nicht immer noch befürchten –«
»Ich weiß nicht. Mir ist klar, dass wir sie nicht davon abhalten können, sich auf die Suche zu machen, wenn sie das unbedingt will, aber …« Sie verstummt, zwirbelt sich ein Papiertaschentuch um den Zeigefinger. »Ich mache mir einfach Sorgen, mehr nicht. Wir wissen nicht, was passieren wird. Ich möchte nicht, dass sie enttäuscht wird.«
»Du kannst sie nicht ewig beschützen, Somer. Sie ist kein Kind mehr.«
»Ich weiß, aber wir haben das alles hinter uns gelassen. Es geht ihr doch jetzt gut.« Somer kann ihre wirklichen Ängste nicht in Worte fassen. Dass sie Asha verlieren wird, wenn auch nur ein bisschen. Dass die Verbindung, die sie so mühevoll aufgebaut hat, durch dieses Gespenst gefährdet werden könnte. Genau diese Entwicklung hat sie schließlich die ganze Zeit verhindern wollen – genau das ist der Grund, warum sie nie wieder nach Indien wollte, warum sie Asha nie ermutigt hat, Fragen nach ihrer Adoption zu stellen. Fast jede Entscheidung, die sie getroffen hat, seit Asha in ihr Leben trat, ist davon beeinflusst gewesen.
31
Wie immer
Mumbai, Indien – 2004
Kavita
Der Taxifahrer biegt in die Einfahrt zu ihrem neuen Mietshaus. Sie wohnen jetzt seit über einem Jahr hier, aber Kavita hat sich noch immer nicht daran gewöhnt, dass jemand bereitsteht, um ihr die Autotür zu öffnen, und ein anderer vor dem Aufzug wartet, um sie nach oben in den dritten Stock zu befördern. Vijay hat vor zwei Jahren, als sein Geschäft zu florieren begann, darauf bestanden, dass sie in eine größere Wohnung ziehen. »Ich bin jetzt neunzehn, Ma. Ich finde, ich sollte langsam ein eigenes Zimmer haben«, sagte er.
Sie hatten keine Gegenargumente, zumal Vijay sagte, sie bräuchten weiterhin nur dieselbe Miete wie für die Wohnung auf der Shivaji Road zu bezahlen, die Differenz würde er übernehmen. Kavita weiß nicht, wie teuer die neue Wohnung tatsächlich ist, und sie glaubt auch nicht, dass Jasu das weiß. Sie haben jetzt ein Zimmer für sich, genau wie Vijay, der kommt und geht, wie sein Geschäft es gerade verlangt, denn er kriegt laufend Anrufe auf seinem Piepser oder seinem Handy. Kavita ist froh über den zusätzlichen Platz und über die moderne Küche, wo es immer heißes Wasser gibt. Aber dennoch vermisst sie das alte chawl auf der Shivaji Road, die Nachbarn, mit denen sie sich gut verstand, die Läden, wo man sie mit Namen kannte.
Die beste Veränderung hat der Umzug bei Jasu bewirkt. Eine schwere Last scheint ihm von den Schultern genommen, und selbst seine Albträume haben nachgelassen. »Ich habe das Gefühl, als könnte ich endlich ein bisschen entspannen«, sagt er. »Es geht uns gut, unser Sohn ist erwachsen. Das ist ein gutes Gefühl, chakli .« Kavita empfindet das nicht so. Es beunruhigt sie, ihren Sohn als erwachsenen Mann zu sehen, der gänzlich unabhängig mit ihnen unter einem Dach lebt und Geschäfte tätigt als ein Erwachsener, den sie nicht wiedererkennt. Es bereitet ihr nach wie vor Sorgen, dass Vijay so viel Zeit mit seinem Partner Pulin verbringt, so seltsame Arbeitszeiten hat, so viel Bargeld bei sich trägt. Dies und noch manches andere geht ihr durch den Kopf, wenn sie nachts wach liegt. Als der Aufzug mit einem Ruck anfährt, fragt sie sich, ob sie je aufhören kann, sich um ihren Sohn zu sorgen.
Sie fragt sich auch, was aus ihrer Tochter geworden sein mag. Usha wird jetzt erwachsen
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