Geheime Tochter
Als sie alle gelesen hat, ist ihr Gesicht nass. Ihre Augen verweilen auf dem einzigen Gegenstand, der noch in der Dose liegt: ein dünner Silberreif. Sie nimmt ihn in die Hand und dreht ihn zwischen den Fingern.
In dem Moment hört sie ein Klopfen, und ihre Zimmertür geht wieder auf. Asha dreht sich um und sieht ihre Mutter in der offenen Tür stehen. Sie lässt den Blick durch den Raum gleiten, registriert die deutlichen Anzeichen für Ashas bevorstehende Abreise. Ihre Augen verharren auf Ashas verweintem Gesicht und schließlich auf dem Armreif in ihren Händen. Asha lässt sich den Reif auf den Schoß fallen und wischt hastig ihr Gesicht trocken.
»Was ist? Kannst du nicht wenigstens anklopfen, Mom?«
»Ich habe geklopft.« Die Augen ihrer Mutter starren wie gebannt auf den Armreif. »Was machst du?«
»Ich packe. In zwei Tagen reise ich ab, schon vergessen?« Ihr Ton ist trotzig.
Ihre Mutter senkt den Blick und erwidert nichts.
»Na los, sag es, Mom. Sag es.«
»Was soll ich denn sagen?«
»Warum du die ganze Zeit mit einer Leichenbittermiene rumläufst, als wäre eine absolute Katastrophe passiert. Aber es ist keine Katastrophe.« Asha schlägt auf die Armlehnen des Stuhls. »Ich bin schließlich nicht schwanger oder auf Entzug oder von der Uni geflogen, Mom. Ich habe ein Stipendium bekommen, verdammt noch mal. Kannst du dich nicht einfach für mich freuen, ein kleines bisschen stolz sein?« Asha blickt nach unten auf ihre Hände, und ihre Stimme ist stahlhart. »Hast du nicht auch mal so was machen wollen wie ich jetzt, als du in meinem Alter warst?« Sie sieht zu ihrer Mom hoch, fordert eineAntwort. »Vergiss es. Du hast mich nie verstanden. Wieso jetzt noch damit anfangen?«
»Asha …« Ihre Mutter geht zu ihr und streckt die Hand nach ihrer Schulter aus.
Asha weicht jäh zurück. »Es ist wahr, Mom. Und du weißt, dass es wahr ist. Du hast mein ganzes Leben lang versucht, aus mir schlau zu werden, aber du verstehst mich noch immer nicht.« Asha schüttelt den Kopf, steht auf und dreht sich zu ihrem Schreibtisch um. Sie stopft die Briefe und den Armreif wieder in die Marmordose und hört, wie hinter ihr die Tür ins Schloss fällt.
33
Willkommen zu Hause
Mumbai, Indien – 2004
Asha
Asha erwacht aus einem leichten Schlaf, als sie die Stimme des Piloten hört. Er verkündet, dass sie zehn Minuten früher landen als geplant, ein kleiner Trost nach zwölf Stunden in der Luft. Es ist 2.07 Uhr morgens. Ortszeit in Mumbai, laut der Armbanduhr, die sie kurz nach der Zwischenlandung in Singapur umgestellt hat. Diese letzte Etappe der Reise ist ihr unerträglich lang vorgekommen. Über sechsundzwanzig Stunden, also mehr als ein ganzer Tag, sind vergangen, seit sie sich am Flughafen in San Francisco von ihren Eltern verabschiedet hat, und die Szene war noch schlimmer, als sie erwartet hatte. Ihre Mutter begann zu weinen, sobald sie den Flughafen erreichten. Dann zankten sich ihre Eltern wie so oft in letzter Zeit, wo sie parken sollten und welches die richtige Warteschlange war. Ihr Vater hatte die ganze Zeit, während sie durch den Terminal gingen, schützend eine Hand auf ihren Rücken gelegt. Als es für Asha Zeit wurde, durch die Sicherheitskontrolle zu gehen, umarmte ihre Mutter sie ganz fest und streichelte ihr Haar, wie sie es früher getan hatte, als Asha noch ein kleines Mädchen war.
Als sie sich umdrehen und gehen wollte, drückte ihr Dad ihr einen Umschlag in die Hand. »Ist mittlerweile wahrscheinlich wertlos«, sagte er lächelnd, »aber du kannst jetzt mehr damit anfangen als ich.« Auf der anderen Seiteder Sicherheitsschleuse öffnete sie den Umschlag und sah, dass er Dutzende indische Rupienscheine unterschiedlichen Wertes enthielt. Sie blickte zurück durch das Gewirr aus Metalldetektoren, Tischen und Leuten und sah ihre Mutter noch immer an derselben Stelle stehen, wo sie einander umarmt hatten. Ihre Mom lächelte schwach und winkte. Asha winkte zurück und ging. Als sie ein letztes Mal über die Schulter blickte, war ihre Mutter noch immer da.
Asha sammelt ihre Sachen auf dem engen Platz zusammen, der einen Tag lang ihr Zuhause war. Der Hals tut ihr weh, weil sie unbequem geschlafen hat, und ihre Beine fühlen sich steif an, als sie nach ihrem Rucksack greift. Die Akkus von ihrem DVD – Player und iPod haben schon auf dem Weg nach Singapur den Geist aufgegeben. Die Taschenbücher sind noch immer fast ungelesen, weil sie sich nicht richtig auf sie konzentrieren konnte. Sie hat die
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