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Geheime Tochter

Geheime Tochter

Titel: Geheime Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shilpi Somaya Gowda
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Kreuzworträtselbuch und zwei Taschenbücher. Nach einiger Überlegung legt sie noch ein drittes Buch auf den Stapel, einen Gedichtband von Mary Oliver, ein Abschiedsgeschenk von Jeremy. Auf den Innendeckel hat er ihr Lieblingszitat geschrieben und darunter eine persönliche Widmung gesetzt:
    »Die Wahrheit ist der einzig sichere Boden.«
– Elizabeth Cady Stanton
    Für meinen hellsten Stern –
Hör niemals auf, nach der Wahrheit zu suchen.
Die Welt braucht dich. – J.     C.
    Es klopft an der Tür, und ihr Vater schaut herein. »Kann ich reinkommen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, tritt er ein und setzt sich aufs Bett.
    »Klar. Ich bin gerade beim Packen.«
    »Ich habe die hier gefunden und dachte, sie wären vielleicht ganz nützlich für deine Reise.« Ihr Vater hält ihr zwei seltsam aussehende Teile aus Plastik und Metall hin. »Das sind Stromkonverter. Du steckst diese Seite in die Steckdose in Indien und stöpselst deinen Fön oder Computer in die andere Seite. Die Dinger wandeln die Spannung um.«
    »Danke, Dad.«
    »Und ich dachte, die hier könnten auch hilfreich sein.« Er reicht ihr einen Stapel Fotos. »Wo du doch jetzt alle kennenlernen wirst. Wir haben eine ziemlich große Familie da drüben, weißt du.« Er rutscht auf dem Bett neben sie, und sie gehen zusammen die Fotos durch: Großeltern, Tanten, Onkel und etliche Cousins und Cousinen in ihrem Alter, die sie nur von sporadischen Telefonaten und Diwali-Karten kennt. Das verunsichert sie am meisten: die Aussicht, fast ein ganzes Jahr lang bei Leuten zu wohnen, die sie kaum kennt.
    »Die nehme ich ins Flugzeug mit, damit ich alle Namen auswendig lernen kann, bevor ich da bin.«
    »Und? Hast du alles mit der Times of India geklärt?«, fragt er.
    »Ja, der Name, den du mir gegeben hast – der Freund von Onkel Pankaj –, der war echt hilfreich. Als der Chefredakteur gehört hat, dass ich Stipendiatin aus Amerika bin, war er sehr interessiert. Sie geben mir einen Schreibtisch und lassen mich von einem erfahrenen Reporter begleiten, wenn ich in den Slums recherchieren will, aber die Interviews soll ich allein machen. Vielleicht drucken sie sogar eine Sonderreportage von mir. Ist das nicht toll?«
    »Ja, und es ist gut, dass du jemanden an deiner Seite hast. Deine Mutter macht sich deswegen große Sorgen.«
    Asha schüttelt den Kopf. »Deswegen und wegen allem anderen auch. Meinst du, sie kommt irgendwann darüber weg? Oder wird sie ewig sauer sein?«
    »Sie macht sich nur Sorgen um dich, Schätzchen«, sagt er. »Sie ist deine Mutter. Das ist ihr Job. Ich bin sicher, sie kriegt sich wieder ein.«
    »Kommt ihr mich mal besuchen?«, fragt sie.
    Er blickt sie eine Weile an, nickt dann. »Wir kommen. Natürlich kommen wir, Liebes.« Er tätschelt ihr das Knie, bevor er aufsteht, um zu gehen. »Dann pack mal weiter.«
    Mit den Fotos in der Hand geht Asha zu ihrem Schreibtisch und setzt sich auf den Stuhl. Dieser Schreibtisch kommt ihr klein vor im Vergleich zu dem breiten Arbeitstisch, den sie in der Herald – Redaktion gewohnt ist. Sie öffnet die Schublade, um einen Umschlag für die Fotos zu suchen, tastet in dem Durcheinander herum und sieht dann ganz hinten einen vertrauten Gegenstand. Sie greift weiter hinein und zieht die verzierte weiße Marmordose hervor. Meine Geheimnisdose .
    Sie hat diese Dose seit Jahren nicht gesehen, obwohl sie sie aus dem Gedächtnis zeichnen könnte. Sie sieht kleiner aus, als sie sie in Erinnerung hat. Sie wischt die Staubschicht ab und lässt die Hand einen Moment lang darauf ruhen, auf der kühlen Oberfläche. Sie merkt, dass sie den Atem anhält, holt tief Luft und öffnet die Dose. Sie faltet den ersten Brief darin auseinander, ein kleines rechteckiges Blatt zartrosa Briefpapier. Langsam liest sie die Worte, die da in vertrauter kindlicher Schrift stehen:
    Liebe Mom,
    heute hat unsere Lehrerin der ganzen Klasse aufgegeben, einen Brief an jemanden in einem anderen Land zu schreiben. Mein Vater hat mir erzählt, dass Du in Indien bist, aber ich weiß Deine Adresse nicht. Ich bin neun und gehe in die Vierte. Ich wollte Dir schreiben, um Dir zu sagen, dass ich Dich gern mal kennenlernen würde. Willst Du mich kennenlernen?
    Deine Tochter Asha
    Die rührselige Direktheit dieser Zeilen geht ihr unter die Haut. Sie spürt, wie ihr Tränen in die Augen schießen und sie langsam von Emotionen überschwemmt wird, die sie schon lange nicht mehr empfunden hat. Sie nimmt dieübrigen Briefe heraus und entfaltet den nächsten.

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