Geheime Tochter
Zeit vertrödelt, die angebotenen Mahlzeiten und Filme in der Bordanlage gleichermaßen desinteressiert konsumiert. Das Einzige, was sie wieder und wieder aus ihrem Rucksack hervorgeholt hat, waren der dicke Umschlag mit den Familienfotos ihres Vaters und der Inhalt ihrer Marmordose. Je mehr Stunden sie in der Luft war und je größer die Distanz zwischen ihr und ihren Eltern wurde, desto mehr fühlte Asha sich anders. Nervös. Angespannt.
Die beiden Jungs, die neben ihr sitzen, verstauen ihre Gameboys, und ihre Mutter kommt von der Toilette zurückgehastet, wo sie ihren Trainingsanzug gegen einen Sari getauscht und frischen Lippenstift aufgelegt hat. Sie haben sich als die Doshis vorgestellt, die Mumbai wie jedes Jahr im Sommer besuchen, seit sie vor sechs Jahren nach Seattle gezogen sind, »wegen Mr Doshis Arbeit«. Als die Maschine mit einem leichten Ruck aufsetzt, jubelnund applaudieren die Passagiere. Asha schlurft mit den anderen von Bord, gewöhnt sich wieder an das Gefühl, auf den Beinen zu stehen.
Der Flughafen von Mumbai ist ein gigantisches Chaos. Anscheinend sind noch zehn andere Maschinen um diese unwahrscheinliche Uhrzeit gelandet, und jetzt strömt eine Flut von Passagieren von sämtlichen Flügen gleichzeitig auf die Einreiseschalter zu. Asha ist unsicher, wo sie hinsoll, und folgt den Doshis zu einer Warteschlange an einem Ende der großen, offenen Halle. Sobald sie sich alle einen Platz in der Schlange gesichert haben, spricht Mrs Doshi Asha an. »Es war viel einfacher für uns, als wir uns noch da vorn anstellen durften«, sagt sie und deutet auf eine wesentlich kürzere Schlange vor einem Schalter mit der Aufschrift INDISCHE STAATSBÜRGER . »Aber letztes Jahr mussten wir unsere indische Staatsbürgerschaft abgegeben. Mr Doshis Firma wollte das so, und jetzt müssen wir in dieser Schlange warten. Die ist immer länger.« Mrs Doshi sagt das ganz sachlich, als wäre das die spürbarste Auswirkung ihrer Entscheidung, Bürger eines anderen Landes zu werden.
Asha sieht sich in dem Meer aus braunen Gesichtern um: einige heller, einige dunkler als ihres, aber diese Unterschiede sind unerheblich in Anbetracht der Erkenntnis, dass sie nie zuvor mit so vielen Indern zusammen war. Zum ersten Mal in ihrem Leben gehört sie nicht zur Minderheit. Als sie sich dem Schalter nähert, greift sie unter ihr Hemd und zieht ihren Reisepass aus dem Brustbeutel, den sie auf Drängen ihrer Mutter hin trägt. Der Einreisebeamte ist ein junger Mann, nicht viel älter als sie, aber mit seinem adretten Schnurrbart und der schmucken Uniform strahlt er eine Autorität aus, die ihn älter wirken lässt.
»Der Grund Ihres Besuchs«, sagt er mit monotonerStimme. Er stellt diese Frage so oft am Tag, dass er keine Neugierde mehr heuchelt.
»Ein Stipendium.« Asha wartet, bis er das Visum in ihrem Pass gefunden hat.
»Länge Ihres Aufenthalts?«
»Neun Monate.«
»Was ist das für eine Adresse, die Sie angegeben haben? Wo werden Sie wohnen?«, fragt er und blickt sie zum ersten Mal an.
»Bei … Verwandten?«, sagt Asha. Es kommt ihr seltsam vor, das auszusprechen. Obwohl es im Grunde stimmt, bekommt sie feuchte Hände, als hätte sie den Beamten gerade belogen.
»Ich sehe, Sie sind hier geboren«, sagt er mit ein wenig mehr Interesse.
Asha fällt der ungewöhnliche Teil in ihrem Pass ein, in dem BOMBAY , INDIEN als Geburtsort angegeben ist. »Ja.«
Der Beamte lässt seinen Stempel knallen, hinterlässt damit einen rechteckigen dunkellila Fleck auf dem Papier und gibt ihr den Pass mit einem neuen Lächeln unter dem Schnurrbart zurück. »Willkommen zu Hause, Madam.«
Auf dem Weg zur Gepäckausgabe dringt ihr als Erstes die Geruchsmischung in die Nase. Es riecht salzig wie der Ozean, würzig wie in einem indischen Restaurant und schmutzig wie in der New Yorker U-Bahn. Asha erspäht ihre Koffer inmitten der übrigen gigantischen Gepäckstücke auf dem Karussell. Das Band ist außerdem voll mit übergroßen und komplett mit Klebeband umwickelten Kartons, Styroporkühlboxen, deren Deckel fest verschnürt wurden, und ein ganz besonders großer Karton enthält offenbar einen Kühlschrank. Mr Doshi hilft Asha, ihre beiden Koffer vom Band zu wuchten, und gibt einem in der Nähestehenden dürren Mann mit Turban ein Zeichen. Als sie sich schon fragen will, wieso Mr Doshi jemanden ohne Gepäckwagen herbeigewinkt hat, geht der Turbanmann in die Knie und hievt sich rasch beide Koffer auf den Kopf. Sobald er das gestapelte Gepäck
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