Geheime Tochter
mit einer Hand auf jeder Seite gesichert hat, blickt er Asha an und zieht leicht die Augenbrauen hoch. Sie versteht die kleine Geste als Aufforderung, sich in Bewegung zu setzen. Er wird ihr irgendwie durch das dichte Gedränge hindurchfolgen, während er über fünfzig Kilo auf dem Kopf balanciert.
Kaum hat sie einen Fuß ins Freie gesetzt, schlägt ihr heiße Luft entgegen. Ihr wird klar, dass sie soeben ein klimatisiertes Gebäude verlassen hat, obwohl es ihr drinnen gar nicht so vorgekommen war. Metallsperren halten Scharen von Menschen zurück, mindestens sechs Reihen hintereinander, und alle recken sie die Hälse in Richtung der Schiebetüren, durch die Asha gerade getreten ist. Die Menge besteht überwiegend aus Männern, die mit ihren ordentlich gestutzten Schurrbärten und geölten Haaren aussehen wie der Einreisebeamte, nur ohne Uniform. Und obwohl vermutlich jeder von ihnen auf irgendjemanden wartet, der durch diese Türen kommen wird, spürt Asha beim Weitergehen, dass etliche Augenpaare auf ihr ruhen.
Alle paar Schritte sieht sie sich nach dem Turbanmann hinter ihr um, rechnet jeden Moment damit, dass ihre Koffer mit einem dumpfen Knall auf der Erde landen, weil sein Hals unter ihrer Last eingeknickt ist. Doch jedes Mal, wenn sie den Kopf dreht, ist er noch da, das hagere Gesicht ausdrucks- und regungslos bis auf eine leichte Kaubewegung seiner Kinnlade. Asha kommt der Gedanke, dass sie den Mann ja bezahlen muss, und sie fragt sich, ob die Rupien, die sie von ihrem Vater bekommenhat, wohl ausreichen. Ihr Dad hat ihr gesagt, dass einer seiner Brüder, also ihr Onkel, sie vom Flughafen abholen wird. Damals genügte ihr diese Information, aber als sie jetzt das Meer von Hunderten Menschen absucht, die den Flughafengang säumen, beschleichen sie arge Zweifel, dass sie einander finden werden. Sie nähert sich dem Ende des Gangs und will schon das Foto von ihrem Onkel aus dem Rucksack holen, als sie jemanden ihren Namen rufen hört.
»Asha! A-sha!« Ein junger Mann winkt ihr. Er hat pechschwarzes Haar und trägt ein weißes Baumwollhemd, das seine Brusthaare sehen lässt. Sie geht zu ihm. »Hi, Asha! Willkommen. Ich bin Nimish. Pankaj bhais Sohn«, sagt er mit einem Grinsen. »Dein Cousinbruder! Komm.« Er führt sie von der Menschenmenge weg. »Papa wartet am Wagen, gleich da drüben. Gut, du hast einen Kuli gefunden.« Nimish winkt dem Turbanmann, ihnen zu folgen.
»Schön, dich kennenzulernen, Nimish«, sagt Asha und geht hinter ihm her. »Danke, dass ihr mich abholt.«
»Natürlich. Dadima wollte auch mitkommen, aber wir haben ihr gesagt, das wäre keine gute Idee um diese Uhrzeit. Der Flughafen ist immer brechend voll von den Überseeflügen.« Nimish führt Asha und den Kuli durch ein Gewirr von Autos, jedes mit eingeschalteten Scheinwerfern und einem Fahrer, der aus dem offenen Fenster lehnt. Asha erinnert sich, dass ihr Vater das Wort Dadima benutzt hat, wenn er ihr bei den wöchentlichen Anrufen in Indien den Hörer gereicht hat; sie weiß, dass das Großmutter bedeutet.
»Da ist Papa, komm.« Nimish führt sie auf eine altmodisch aussehende Limousine zu, auf der hinten der Name AMBASSADOR als Metallschriftzug prangt. Asha ist ein wenig verblüfft, als sie den Mann sieht, zu demNimish Papa sagt. Onkel Pankaj sieht um einiges älter aus als auf dem Foto, das Dad ihr gegeben hat, und er hat deutlich weniger Haare. Er ist der jüngere Bruder ihres Vaters, könnte aber zehn Jahre älter sein.
»Hallo, dhikri «, sagt er und breitet die Arme aus, um sie zu drücken. »Willkommen, ich freue mich, dich zu sehen. Bahot khush, hä? Wie war der Flug?« Er nimmt ihr Gesicht in beide Hände und lächelt breit. Und als er ihr einen Arm um die Schultern legt, ist das Gefühl so vertraut, dass sie sich an ihn schmiegt. Aus den Augenwinkeln sieht Asha, wie Nimish den Kofferraum für den Kuli öffnet. Sie denkt wieder an den Umschlag mit den Rupien, doch ehe sie nach dem Preis fragen kann, hat Nimish den Turbanmann bezahlt, der schon wieder auf dem Rückweg zum Terminal ist. Auf der Fahrt überschüttet ihr Onkel sie mit Fragen.
»Wie war die Reise? Erzähl mal, wie geht’s deinem Papa? Wieso ist er nicht mitgekommen? Er hat uns schon so lange nicht mehr besucht.«
»Papa«, sagt Nimish, »genug Fragen. Verschon sie. Sie ist doch eben erst angekommen, sie ist müde.«
Asha lächelt, weil ihr Cousin sie so in Schutz nimmt. Sie gähnt und lehnt den Kopf gegen das Autofenster. Draußen, am Rande der
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