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Geheime Tochter

Geheime Tochter

Titel: Geheime Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shilpi Somaya Gowda
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Schnellstraße, sieht sie Reklametafeln, die für alles Mögliche werben, von Modeboutiquen über Bollywoodfilme bis hin zu Investmentfonds und Mobiltelefonanbietern. Irgendwann verändert sich die Szenerie draußen vor dem Ambassador, und aus Hochhäusern werden Slums: baufällige Hütten, Wäsche an hoch gespannten Leinen, überall herumliegender Müll, streunende Hunde. Asha hat bei ihren vorbereitenden Recherchen Fotos gesehen, aber die Aufnahmen haben ihr nicht annähernd vermittelt, wie riesig die Slums sind. Der selbst imSchutze der Nacht deprimierende Anblick erstreckt sich schier endlos weit, Meile um Meile, und Asha wird allmählich flau im Magen. Sie muss an die ängstlichen Warnungen ihrer Mutter vor Besuchen in solchen Siedlungen denken und fragt sich zum ersten Mal, ob sie nicht vielleicht doch recht hatte.

34
Bruder und Schwester
    Mumbai, Indien – 2004
Asha

    An ihrem ersten Morgen in Mumbai wird Asha früher, als ihr lieb ist, von den Geräuschen des erwachenden Haushalts geweckt. Sie zieht ihre Yogahose an, die sie im Flugzeug getragen hat, und schlurft hinaus ins Wohnzimmer, durch das sie in der Nacht zuvor gekommen war. Eine alte Frau in einem eleganten grünen Sari sitzt am Esstisch und trinkt aus einer Teetasse.
    »Guten Morgen«, sagt Asha.
    »Ah, Asha beti! Guten Morgen.« Die alte Frau steht auf, um sie zu begrüßen. »Sieh dich bloß an«, sagt sie und ergreift Ashas Hände. »Ich erkenne dich kaum wieder, so groß bist du geworden. Weißt du, wer ich bin, beti? Die Mutter deines Vaters. Deine Großmutter. Dadima.«
    Dadima ist größer, als sie erwartet hat, mit einer tadellosen Haltung. Ihr Gesicht ist sanft und faltig, und das graue Haar hat sie im Nacken zu einem großen Knoten gebunden. An jedem Handgelenk trägt sie mehrere dünne Goldreife, die bei jeder Bewegung klimpern. Asha ist etwas unsicher, wie sie sie begrüßen soll, doch dann schließt Dadima sie in die Arme. Die Umarmung ist warm und wohltuend und dauert einige Momente.
    »Komm, setz dich, trink einen Schluck Tee. Was möchtest du zum Frühstück?« Dadima führt Asha am Arm zum Tisch hinüber.

    Asha freut sich über die Schüssel mit frischen Mangostücken, die vor ihr steht. Sie hat das Gefühl, sich seit Tagen ausschließlich von Flugzeugessen ernährt zu haben. Während sie ihren heißen Tee trinkt, unterhalten sie sich. Sie ist überrascht, wie gut Dadima Englisch spricht, obwohl sie gelegentlich ins Gujarati rutscht.
    »Dadaji, dein Großvater, ist noch im Krankenhaus, aber er wird zum Mittagessen zurück sein. Ach beti , die ganze Familie ist so aufgeregt und kann es kaum erwarten, dich zu sehen. Ich habe alle für Samstag zum Essen eingeladen. Ich wollte dir ein paar Tage zum Einleben geben, auch damit du dich an die Zeitverschiebung und so weiter gewöhnen kannst.«
    »Das klingt gut. Bei der Times werde ich erst kommenden Montagmorgen erwartet«, sagt Asha. Schon als sie die Worte ausspricht, durchfährt sie prickelnde Vorfreude, nur bei dem Gedanken daran, bei einer großen internationalen Zeitung zu arbeiten. Nach dem Frühstück holt Asha den Umschlag mit den Fotos, die ihr Vater ihr gegeben hat, und bittet Dadima, ihr bei den Namen von allen aus der Familie zu helfen. Dadima sieht die Fotos durch, lacht mitunter, weil sie so veraltet sind. »Oh, deine Cousine ist längst nicht mehr so schlank, obwohl sie meint, sie würde noch genauso aussehen!«
    Dadima zeigt Asha, wie die primitive Dusche im Badezimmer funktioniert, für die erst der Boiler zehn Minuten eingeschaltet werden muss. Das Duschen gestaltet sich mühseliger, als Asha es gewohnt ist, denn der Wasserdruck ist schwach und die Temperatur schwankt ständig. Als sie schließlich fertig und angezogen ist, überkommt sie erneut die Müdigkeit und sie schlummert auf ihrem Bett ein, verschläft glatt das Mittagessen mit Dadaji. Als sie ihren Großvater beim Abendessen schließlich kennenlernt,ist sie erstaunt, wie ruhig er ist. Sie hatte ihn sich eher wie ihren Vater vorgestellt, ehrgeiziger und bestimmter. Ihre Großmutter scheint von beiden die eindrucksvollere Persönlichkeit zu sein, denn sie erzählt Geschichten, lacht und dirigiert die Bediensteten mit einem Fingerschnippen. Dadaji sitzt am Kopfende des Tisches und isst still. Wenn er über eine Geschichte seiner Frau lächelt, zeigen sich Fältchen in seinen Augenwinkeln, und er nickt bedächtig mit seinem silbernen Haupt.
    Asha braucht ein paar Tage, um sich in Mumbai zu akklimatisieren. Der

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