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Geheime Tochter

Geheime Tochter

Titel: Geheime Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shilpi Somaya Gowda
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Jetlag gibt ihr das Gefühl, in einem Nebel herumzulaufen. Mitten am Tag befällt sie plötzlich Schläfrigkeit. Das Wetter ist drückend – so heiß und schwül, dass sie die meiste Zeit im Haus bleibt. Wenn sie Dadima mal nach draußen begleitet, ist sie stets geschockt, wenn sie den Dreck und die Armut auf den Straßen sieht, gleich vor ihrer Tür. Sie hält den Atem an, wenn sie an den übel riechenden Stellen vorbeikommen, und wendet den Blick von den bettelnden Kindern ab, die ihnen nachlaufen.
    Jedes Mal, wenn sie in die Wohnung zurückkehren, eilt sie sogleich zu dem Klimagerät in ihrem Zimmer und stellt sich davor, bis ihre Körpertemperatur wieder normal ist. Und dann ist da noch das indische Essen, das dreimal am Tag serviert wird und schärfer ist, als sie es gewohnt ist, was ihrem Magen einige Anpassung abverlangt. Sie hat das Gefühl, nicht mehr sie selbst zu sein, und alles an ihrer Umgebung – das Brot in Form von kleinen quadratischen Päckchen, die Zeitung in der Farbe von blassrosa Nagellack – erinnert sie daran, wie weit sie von daheim entfernt ist. Sie überlegt, zu Hause anzurufen, um etwas Trost zu suchen, verkneift es sich aber, aus Stolz.

    Schließlich ist Samstag, der Tag des großen Mittagessens im Kreis der Familie. Asha zieht ein blaues Sommerkleid aus Leinen an und schminkt sich dezent mit Rouge und Mascara. Es ist das erste Mal seit ihrer Abreise aus Kalifornien, dass sie Make-up trägt. In der Hitze hier fühlt es sich an, als würde ihr gleich alles wieder vom Gesicht laufen, aber sie möchte hübsch aussehen. Dadima wuselt schon den ganzen Vormittag in der Wohnung umher und schaut den Bediensteten bei der Zubereitung des riesigen Festmahls auf die Finger.
    Sobald die ersten Gäste eintreffen, reißt der Strom nicht mehr ab. Verwandte jeden Alters stürzen strahlend lächelnd und in hübsche Saris gekleidet auf Asha zu. Sie nennen sie beim Namen, umarmen sie, halten ihr Gesicht in beiden Händen. Sie staunen, wie groß sie ist, bewundern ihre schönen Augen. Einige von ihnen kommen Asha vage bekannt vor, aber die meisten nicht. Sie stellen sich rasch, aber doch langatmig vor: »Der Onkel deines Vaters und mein Onkel waren Brüder. Wir haben früher immer hinter dem alten Haus Cricket gespielt.« Asha versucht, sich ihre Namen zu merken und mit den Fotos abzugleichen, sieht aber rasch ein, dass das kaum möglich und außerdem unnötig ist. Es sind mindestens dreißig Leute gekommen, und obwohl sie ihnen zum ersten Mal begegnet, behandeln sie alle, als würden sie sie seit Jahren kennen.
    Als der Begrüßungsansturm sich gelegt hat, geht es auf zum Büfett. Nachdem Asha sich einen Teller gefüllt hat, sieht sie eine Gruppe jüngerer Frauen zusammensitzen, die sich ihr zuvor als Cousinen irgendwelchen Grades vorgestellt haben. Priya, über zwanzig, mit rostroten Strähnchenhaaren und großen goldenen Ohrringen, winkt Asha herüber. »Komm, Asha, setz dich zu uns«, sagtsie mit einem breiten Lächeln und rückt zur Seite, um ihr Platz zu machen. »Lass die Tanten und Onkel allein tratschen.«
    Asha setzt sich. »Danke.«
    »Du hast doch alle schon kennengelernt, oder?«, fragt Priya. »Das sind Bindu, Meetu, Pushpa und das ist Jeevan. Sie ist unsere älteste Cousinenschwester, daher müssen wir sie mit Respekt behandeln.« Priya zwinkert der Gruppe zu. Asha erinnert sich an Dadimas Bemerkung über Jeevans erweiterten Taillenumfang und lächelt.
    »Keine Sorge, du musst dir nicht alle Namen merken. Das ist das Schöne an indischen Sippen. Du kannst einfach alle Tante-Onkel nennen, Bhai-Ben .« Priya lacht laut auf.
    »Okay, Tante und Onkel verstehe ich, aber was bedeuten die anderen Ausdrücke?«, fragt Asha.
    » Bhai-Ben? «, sagt Priya. »Bruder und Schwester. Das sind wir alle.« Priya zwinkert wieder.
    Asha blickt sich um, schaut die vielen Menschen an, die lachen, plaudern, essen, die sich alle ihretwegen hier versammelt haben. Diese Familie ihres Vaters, all die Menschen, die einander schon ein Leben lang kennen, die zusammen in dieser Stadt groß geworden sind, ja in diesem Haus. Dieser warme, quirlige Kreis von Menschen, der sie mit seiner Zentripetalkraft in seine Mitte zieht, offenbar ohne sich darum zu scheren, dass sie weder ihre Geschichte noch ihr Blut mit ihnen gemeinsam hat. Sie lächelt und nimmt den ersten Bissen von dem Essen, das ihr zu Ehren zubereitet worden ist. Es schmeckt köstlich.

35
Times of India
    Mumbai, Indien – 2004
Asha

    Asha zieht die Tür am

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