Geheime Tochter
Messinggriff auf und spürt sofort einen Schwall kühler Luft. Drinnen klackern ihre Absätze auf dem Marmor, als sie zum Aufzug geht. Eingelassen in der Mitte der Wand ist eine große Tafel mit der Aufschrift: TIMES OF INDIA , GEGRÜNDET 1893.
»Nach oben, Madam?« Der Fahrstuhlführer trägt einen grauen Polyesteranzug.
»Ja, sechste Etage bitte.« Asha ist nicht mehr überrascht, wenn sie auf Englisch angesprochen wird. Ihre Cousinen haben ihr erklärt, dass Inder sie wegen ihrer westlichen Kleidung und des schulterlangen Haars auf Anhieb als Ausländerin erkennen. Sogar der Umstand, dass sie Blickkontakt mit anderen herstellt, verrät sie. Dennoch genießt sie das ungewohnte Gefühl, auf der Straße inmitten von Menschen unterwegs zu sein, die aussehen wie sie. Außer Asha und dem Fahrstuhlführer fahren noch zwei andere Leute im Aufzug mit. Sie stehen im Abstand von nur wenigen Zentimetern zusammen, und es riecht nach altem Schweiß. Dieser Aufzug ist, wie die meisten, mit denen sie hier gefahren ist, nicht klimatisiert, sondern hat nur einen langsam kreisenden Deckenventilator, der lediglich die miefige Luft etwas durchrührt.
Am Empfang in der sechsten Etage fragt Asha nach Mr Neil Kothari, ihrem Hauptkontakt bei der Zeitung.Sie nimmt im Wartebereich Platz und will gerade nach der Times von heute Morgen greifen, als Mr Kothari erscheint, ein großer, schlaksiger Mann etwa im Alter ihres Vaters. Seine Krawatte ist gelockert und seine Haare zerzaust. Asha lehnt die angebotene Tasse Tee dankend ab und folgt ihm in sein Büro. Sie gehen durch einen großen offenen Raum mit Reihen von Schreibtischen, die alle mit Computern bestückt sind. Der Geräuschpegel ist hoch: klingelnde Telefone, ratternde Drucker und unzählige Stimmen. Sie spürt die pulsierende Energie um sich herum, in der größten Zeitungsredaktion, die sie je gesehen hat, voll mit braunen Gesichtern.
»Ich glaube, ich bin der Letzte, der noch eine Schreibmaschine im Büro hat«, sagt Mr Kothari. »Natürlich schreibe ich selbst nicht mehr viel, aber ich bin froh, sie zu haben.« Rings um den großen offenen Raum reihen sich etliche von Glaswänden umschlossene Büros. Mr Kothari führt sie in eines, an dessen hölzerner Tür ein Schild mit der Aufschrift ASSOCIATE EDITOR hängt. »Bitte nehmen Sie Platz«, sagt er und deutet auf einen Stuhl. »Möchten Sie wirklich keinen chai … Tee?«
»Nein, danke.« Asha schlägt die Beine übereinander und holt ihr Notizbuch heraus.
» Nai «, sagt er über ihre Schulter hinweg zu jemandem hinter ihr. Als Asha sich umdreht, sieht sie einen kleinen, dunkelhäutigen Mann, der geräuschlos an der Tür aufgetaucht ist. Er hat dicke gelbe Zehennägel, die grotesk über seine dünnen, abgetragenen Sandalen hinauswuchern. Er nickt Mr Kothari kaum merklich zu und geht so leise wieder, wie er gekommen ist, ohne auch nur einmal in Ashas Richtung geblickt zu haben. »Nun gut, da sind Sie also, aus dem fernen Amerika. Willkommen in Mumbai! Wie gefällt es Ihnen?«, fragt Mr Kothari.
»Gut, danke. Ich finde es sehr aufregend, hier zu sein und für mein Projekt mit einer so großen Zeitung zusammenarbeiten zu dürfen«, sagt Asha.
»Und wir finden es aufregend, eine so begabte junge Nachwuchsjournalistin bei uns zu haben. Ich werde Sie mit Meena Devi bekannt machen. Sie ist eine unserer besten Reporterinnen und ausgesprochen furchtlos, manchmal zu furchtlos. Sie wird Ihnen eine ausgezeichnete Mentorin sein.« Mr Kothari drückt eine Taste an seinem Telefon, und prompt erscheint eine junge Frau in der Tür. »Bitte holen Sie umgehend Meena her.« Einige Minuten später taucht eine weitere Frau an der Tür auf, doch statt draußen zu verharren wie die anderen, kommt sie hereingefegt und nimmt Platz.
» Achha , Neil, was ist denn so wichtig, dass ich alles stehen und liegen lassen muss? Ich habe Termindruck, weißt du?« Sie ist eine kleine Frau, höchstens eins fünfundfünfzig, aber ihre Gegenwart elektrisiert die ruhige Atmosphäre in Mr Kotharis Büro.
»Meena, das ist Asha Thakkar, die junge Dame aus Amerika, die –«
»Ach ja, natürlich!« Meena schießt von ihrem Stuhl hoch und drückt Asha fest die Hand.
»Du erinnerst dich«, fährt Mr Kothari fort, »sie arbeitet an einem Projekt über Kinder in den Slums. Wir haben gleich neben deinem Büro einen Schreibtisch für sie eingerichtet. Deine Aufgabe ist es, dich gut um sie zu kümmern. Zeig ihr das wahre Mumbai. Aber pass auf, dass ihr dabei nichts
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