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Geheime Tochter

Geheime Tochter

Titel: Geheime Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shilpi Somaya Gowda
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passiert«, fügt er rasch hinzu.
    »Komm, Asha.« Meena steht auf. »Ich schreibe den Artikel fertig und dann gehen wir was essen. Schauen uns das wahre Mumbai an«, sagt sie und wirft Mr Kothari einen Schulterblick zu, als sie das Büro verlassen.

    Ashas Schreibtisch ist mit ein paar elementaren Büromaterialien und einem veralteten Computer ausgestattet, und man hat ihr einen Stapel Artikel hingelegt, die sie in den folgenden zwei Stunden liest. Während sie eine Mappe mit Hintergrundreportagen durchblättert, die bisher in der Times erschienen sind, tippt Meena nebenan in ihrem Büro immer mal wieder auf ihrer Tastatur herum. Asha liest einen Artikel über den Aufschwung der Informationsdienstbranche und einen anderen über die Effektivität der Zusteller, die die Büros in der Innenstadt in der Mittagspause mit Essen versorgen. Sie ist drauf und dran, Mumbai für die nächste moderne Industriehauptstadt der Welt zu halten, als sie auf einen Leitartikel über Brautverbrennung stößt.
    Sie liest fassungslos von jungen Bräuten, die mit Benzin übergossen und bei lebendigem Leibe verbrannt werden, wenn ihre Mitgift für unzureichend erachtet wird. Sie wendet sich einem weiteren Artikel zu, über einen Angehörigen der Kaste der Unberührbaren, der seine Kinder verkrüppelt, damit sie beim Betteln größeres Mitleid erregen und mehr Geld nach Hause bringen. Der nächste Bericht befasst sich mit Lakshmi Mittal, dem weltweit größten Stahlproduzenten. Der Artikel danach berichtet über den jüngsten Politikskandal und zählt detailliert die Korruptions- und Bestechungsvorwürfe gegen etliche Minister der Regierung auf. Im letzten Bericht geht es um die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Muslimen in Gujarat im Jahre 2002, bei denen Tausende ums Leben kamen. Nachdem sie von Nachbarn gelesen hat, die einander die Häuser abgefackelt und auf den Straßen aufeinander eingestochen haben, schließt Asha die Mappe und dann die Augen. Sie fragt sich, ob eine Auswahl von Artikeln aus der New York Times ebensointensive Gefühle wie Scham und Stolz in ihr auslösen würden.
    »Ich bin hier so gut wie fertig. Hungrig?«, ruft Meena aus ihrem Büro.
    »Da gibt’s das beste pau-bhaji in ganz Mumbai«, sagt Meena über den Lärm der S-Bahn hinweg. »Wenn ich irgendwo halbwegs in der Nähe von dem Laden bin, gönne ich mir den Imbiss, ob es Mittagszeit ist oder nicht.« Asha hat keine Ahnung, was sie sich unter pau-bhaji vorzustellen hat oder ob es ihr überhaupt schmecken wird, aber darüber scheint Meena sich keine Gedanken zu machen. Sobald sie aus dem lauten Zug ausgestiegen sind, können sie sich wieder normal unterhalten. »Und, wie findest du die Artikel, die du gelesen hast?«, fragt Meena.
    »Gut. Ich meine natürlich, sie sind ausgezeichnet geschrieben und sehr informativ«, sagt Asha.
    Meena lacht. »Ich meinte das Themenspektrum. Was hältst du von unserem tollen Land? Ein Riesenhaufen von Gegensätzen, was? Ich habe die Artikel für dich ausgesucht, weil sie die Extreme Indiens zeigen, die guten und die schlechten. Manche Leute verteufeln Indien gern wegen seiner Schwächen, andere glorifizieren es nur wegen seiner Stärken. Die Wahrheit liegt wie immer irgendwo dazwischen.«
    Asha hat Mühe, mit Meena Schritt zu halten, die sich flink durch das kunterbunte Gewusel von Menschen navigiert: Männer, die gedankenlos auf die Erde spucken, abgemagerte streunende Hunde, Kinder, die um Kleingeld betteln. Und so riskant es auf den Bürgersteigen auch ist, unendlich schlimmer scheinen die Straßen zu sein: Autos wechseln halsbrecherisch die Spur und schenken den Ampeln wenig Beachtung, Doppeldeckerbusse brausengefährlich dicht an sorglosen Kühen und Ziegen vorbei. »In Indien leben eine Milliarde Menschen«, sagt Meena, »und etwa neunzig Prozent davon außerhalb der großen Städte, also in kleinen Ortschaften und Dörfern. Mumbai – sogar das wahre Mumbai, wie Neil es nennt – ist nur ein winziger Bruchteil des Landes. Aber es ist ein mächtiger Bruchteil. Diese Stadt zieht Menschen magnetisch an. Sie ist das Beste und zugleich das Schlechteste von allem, was Indien zu bieten hat. Ah, da wären wir.« Meena steuert auf einen Imbissstand zu. » Doh pau-bhaji, sahib. Ek extramild.« Sie dreht sich um und lächelt Asha an.
    »Hier? Hier essen wir zu Mittag?« Asha blickt erst den Imbissverkäufer und dann Meena ungläubig an. »Ich … ich glaube, ich verzichte lieber. Ich soll nichts essen, was auf der

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