Geheime Tochter
Mumbai. Die verkaufen Drogen. Drogenhandel im großen Stil. Heroin, sagt man.« Er zieht eine Augenbraue hoch und nickt weise, einer der wenigen im Raum, der die Zeitung lesen kann.
Kavita nimmt sich etwas von dem Gemüse- biryani und schaut Jasu an, um seine Reaktion zu sehen, doch seineMiene ist ausdruckslos. Sie beschließt, sich in das Gespräch einzuschalten.
»Wo ist sie denn aktiv? Diese Bande? In welchem Teil von Mumbai?« Sie bemüht sich, nur beiläufig interessiert zu klingen.
»Überall. Sogar hier, in unserem Viertel. Ihr kennt doch den Jungen, mit dem Vijay und Chetan immer in der Schule gespielt haben? Patel, äh, Pulin Patel? Die Patels wohnen drüben auf der M.G. Road, zwei Blocks von hier. Ich habe gehört, der hat mit der Bande zu tun. Die Polizei hat ihn schon im Visier.« Bhayas Mann schüttelt den Kopf und steckt sich einen großen Bissen Reis in den Mund.
Kavita hat ein wundes Gefühl in der Brust, als würde eine schreckliche Wahrheit von innen an ihr kratzen, um herauszukommen. Sie versucht, sich aufs Essen zu konzentrieren, aber sie schmeckt nichts. Das Gespräch geht auf den jüngsten Regierungsskandal über und landet dann wieder bei Filmen. Schließlich versammeln sich die Frauen in der Nähe der Küche und loben Bhayas Essen, während die Männer im Wohnzimmer bleiben.
»Kavita, wann hältst du endlich Ausschau nach einer Frau für Vijay? Er ist jetzt fast zwanzig, oder?«, sagt Bhaya.
» Hahnji , ich weiß.« Kavita ist erleichtert, sich den alltäglicheren Fragen im Zusammenhang mit ihrem Sohn zuwenden zu können. »Ich finde ja auch, es wird langsam Zeit, aber er ist nicht besonders interessiert – ›zu jung, zu jung, Mummy‹, sagt er.« Sie schüttelt den Kopf und lächelt zum ersten Mal, so scheint ihr, seit sie da ist.
»Warte nicht zu lange, ben . Es wird immer schwieriger, bei so vielen Jungs und der Mädchenknappheit.« Bhaya senkt die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. »Manche Familien müssen sogar schon Geld bezahlen, umBräute aus dem Ausland kommen zu lassen, aus Bangladesch und so.«
Kavitas flüchtiges Lächeln erstirbt, als sich das wunde Gefühl in ihrer Brust wieder meldet. So viele Jungs. Mädchenknappheit . Das wunde Gefühl drängt aus ihrem Körper und umhüllt sie. Sie riecht die erdige Monsunluft, obwohl November ist. Sie spürt das tiefe Donnergrollen, obwohl der Himmel draußen klar ist. Sie schließt die Augen, wissend, dass sie als Nächstes den schrillen Schrei in den Ohren gellen hören wird. Als sie die Augen wieder öffnet, lachen Bhaya und ihre Schwester und necken ihre Ehemänner, die in der Küche nach irgendwas Süßem stöbern.
Der Rest des Nachmittags vergeht wie in einem Nebel – Kavita schmeckt nicht mal die üppige Süße von dem gulab jamun , das ihr jemand serviert, die Nachspeise, die sie den ganzen Morgen zubereitet hat. Ihr ist, als würde sie draußen auf dem Balkon stehen und ihre Freunde durchs Fenster beobachten. Sie würde am liebsten gehen und zurück nach Hause laufen. Doch tief im Innern weiß sie, dass das wunde Gefühl nicht besser wird, egal, wohin sie läuft. Nicht mal Jasu könnte es irgendwie vertreiben. Als die ersten Gäste gehen, verabschieden sich auch Jasu und Kavita von ihren Freunden. Sie gehen ein paar Querstraßen fast schweigend nebeneinanderher. »Jasu? Glaubst du, es stimmt, was die Polizei sagt? Glaubst du, Vijay hat was mit der Chandi-Bajan-Bande zu tun?«, fragt Kavita.
Er lässt sich für die Antwort zu lange Zeit, und als er sie gibt, ist sie unbefriedigend. »Wir haben unser Bestes getan, Kavi. Jetzt liegt es in Gottes Händen.«
Zu Hause zündet Kavita, wie es Brauch ist, die diyas an und stellt sie auf die Fensterbänke. Als Kind liebte sie Diwali nur, weil es Süßigkeiten und Feuerwerk gab. Erstspäter, als Erwachsene, verstand sie schließlich die wahre Bedeutung des Lichterfestes: Es erinnert an die Schlacht von Gott Rama und feiert den Triumph des Guten über das Böse. Sie tritt hinaus auf den Balkon und sieht die Abertausenden kleinen Lichter, die die Menschen überall in Mumbai in die Fenster gestellt haben. Sie denkt daran, was Jasu über die Hände Gottes gesagt hat, und fragt sich, ob diese Hände Vijay heute Nacht halten. Was hätte ich mehr für ihn tun können? Wie hätte ich ihn vor diesem Schicksal bewahren können?
In der Ferne sieht sie den ersten hellen Lichtblitz, ehe das Geknatter des Feuerwerks losgeht. Sie schaut eine Weile zu, so tief in Gedanken, dass sie
Weitere Kostenlose Bücher