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Geheime Tochter

Geheime Tochter

Titel: Geheime Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shilpi Somaya Gowda
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Straße verkauft wird …«
    »Keine Angst, Asha, dir passiert schon nichts. Alles, was erhitzt wird, bringt dich nicht um, das schaffen höchstens die Gewürze. Na los, du bist jetzt in Indien – du musst das Echte erleben. Probier doch erst mal!« Meena reicht Asha eine rechteckige Pappschale mit einem rötlich braunen Eintopf, auf dem rohe Zwiebeln und eine Zitronenspalte liegen. Dazu gibt es zwei glänzende weiße Brötchen. Sie stellen sich an den Rand des Bürgersteigs, während die Warteschlange vor dem Imbissstand länger wird. Asha ahmt Meenas Methode nach, reißt ein Stück von einem der Brötchen ab und tunkt es in den Eintopf. Sie nimmt einen zögerlichen ersten Bissen. Es ist lecker. Und sehr, sehr scharf. Sie blickt sich hektisch nach irgendwas zu trinken um und erinnert sich an die Warnungen ihrer Mutter vor den Gefahren von nicht abgekochtem Wasser.
    »Wie schmeckt’s? Ich habe ihm gesagt, er soll es für dich nicht so scharf würzen.« Meena lächelt. »Touristenversion.«

    »Es ist … ein bisschen scharf. Was ist da alles drin?«
    »Gemüsereste mit Gemüse vermanscht. Es war ursprünglich als schnelles Essen für Fabrikarbeiter gedacht. Jetzt ist es einer der beliebtesten Straßensnacks in Mumbai und es schmeckt an jedem Imbissstand anders. Und bei keinem Imbissstand in Mumbai« – Meena leckt sich die Finger – »schmeckt es so gut wie hier.« Als sie aufgegessen haben, sagt Meena: »Na los, gehen wir ein Stück. Ich will dir was zeigen.« Asha folgt ihr, obwohl sie nach diesem Imbiss unsicher ist, ob sie Meena wirklich trauen kann. Nur ein oder zwei Querstraßen weiter erreichen sie den Rand einer riesigen Siedlung.
    »So, da wären wir. Das ist Dharavi«, sagt Meena und streckt dramatisch den Arm aus. »Der größte Slum in Mumbai, der größte in Indien und vielleicht von ganz Asien. Ein zweifelhafter Ehrentitel, aber schau’s dir an.«
    Asha blickt sich um, langsam. Hütten – wenn man sie überhaupt so nennen kann –, halb so groß wie ihr Zimmer, stehen dicht an dicht. Aus jeder Tür kommen Leute – ein alter zahnloser Mann, eine müde aussehende Frau mit strähnigen Haaren, kleine, halb nackte Kinder. Und in den Lücken dazwischen: Dreck – Essensabfälle, menschliche Exkremente, mannshohe Müllberge. Der Gestank ist unerträglich. Sie hält sich die Nase zu, bemüht unauffällig. Und dann will Asha ihren Augen kaum trauen: Ein provisorischer Hindu-Tempel steht direkt auf dem Bürgersteig. Die Statue einer Göttin in einem pinkfarbenen Sari mit einer kleinen Blumengirlande darum lehnt gegen einen dürren Baumstamm. Die Göttin hat ein friedliches Lächeln auf dem bemalten Gesicht, und um die Füße herum sind Blütenblätter und Reiskörner gestreut. Sie wirkt völlig fehl am Platz, diese kleine Nische der Göttlichkeit inmitten von so viel Elend, doch das scheint sonst niemand so zu sehen. Ein Riesenhaufen von Gegensätzen, in der Tat.
    »Hier leben über eine Million Menschen«, sagt Meena, »auf gerade mal zwei Quadratkilometern. Männer, Frauen, Kinder, Vieh. Werkstätten, die alles Mögliche produzieren, von Textilien über Bleistifte bis hin zu Schmuck. Vieles von dem, was als ›made in India‹ verkauft wird, wie es auf den Etiketten steht, wird hier in Dharavi hergestellt.«
    »Wo sind die Werkstätten?« Asha schaut wieder auf die kleinen Hütten und Lagerfeuer, versucht, sich eine Werkstatt voller Maschinen vorzustellen.
    »Unten wohnen, oben arbeiten. Das meiste hier wird per Hand hergestellt oder mit primitiven Werkzeugen«, sagt Meena. »Erinnerst du dich, dass ich von den Extremen Indiens gesprochen habe? Tja, hier findest du alles: das Gute und das Schlechte, wie es nebeneinanderlebt. Auf der einen Seite«, fährt sie fort, während sie an der Siedlung entlanggehen, »Armut, Schmutz, Verbrechen – einige der schlimmsten Aspekte menschlichen Verhaltens. Auf der anderen Seite findest du hier den erstaunlichsten Einfallsreichtum. Die Leute stellen praktisch aus nichts etwas her. Wir beide verdienen in einem Jahr mehr als diese Menschen in ihrem ganzen Leben, und trotzdem gelingt es ihnen, irgendwie zu überleben. Sie haben hier eine richtige Gesellschaft gegründet: Bandenführer, Geldverleiher, klar, aber auch Heiler, Lehrer, heilige Männer. Du siehst also, Asha, es gibt zwei Indien. Zum einen die Welt, die du bei der Familie deines Vaters erlebst, die mit geräumigen Wohnungen, Bediensteten und pompösen Hochzeiten. Zum anderen dieses Indien hier. Und Dharavi ist

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