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Geheime Tochter

Geheime Tochter

Titel: Geheime Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shilpi Somaya Gowda
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überdecken, den sie ihren Gerichten zu verleihen versucht – den Hauch gerebelten Salbeis beim Hähnchen, das Zitronenaroma im Reis –, alles verliert sich unter der roten Decke aus Schärfe. Sie sticht mit der Gabel nach den paar grünen Bohnen auf ihrem Teller. »Ich kann nicht einfach von jetzt auf gleichnach Indien fliegen, ich kriege nur ein paar Tage um Weihnachten frei –«
    »Dann such dir jemanden, der für dich einspringt, Somer. Die kommen auch ohne dich klar.« Die Bemerkung macht sie sauer, obwohl sie inzwischen daran gewöhnt sein müsste, dass er sich abschätzig über ihre Arbeit äußert, als wären die gehirnrettenden Operationen, die er durchführt, die einzige ernst zu nehmende medizinische Praxis. Kris nimmt die Brille ab und putzt sie mit seinem Taschentuch. »Ich kapiere nicht, wo das Problem ist. Die Zeit ist perfekt. Asha ist da, zum ersten Mal, meine ganze Familie ist da. Ich habe sie seit fast einem Jahrzehnt nicht mehr besucht. Und du seit … Gott weiß wie lange schon nicht mehr. Was spricht dagegen, jetzt hinzufahren, Somer? Ich dachte, du würdest dir ihretwegen Sorgen machen, ich dachte, du würdest gern mit eigenen Augen sehen, wie es ihr geht.«
    Natürlich möchte Somer ihre Tochter sehen, aber sie ist sich nicht sicher, ob Asha sie sehen will. Sie denkt an den Streit, den sie kurz vor Ashas Abreise hatten, und an die verlegene Stimmung am Flughafen. Ihre Tochter ist auf Distanz zu ihr gegangen, seit sie sich für die Indienreise entschieden hat. Die Vorstellung, sie dort zu sehen, in dem Land, das bei ihr nur schwierige Erinnerungen wachruft, ist schwer zu ertragen. Schon jetzt fühlt sie sich in ihrer eigenen Familie wie eine Außenseiterin, in dieser Familie, der sie ihr ganzes Leben geopfert hat. Sie hat nicht die Kraft, jetzt nach Indien zu reisen und sich in einem Land voller Fremder fehl am Platz zu fühlen.
    »Ich habe meine Familie seit genau acht Jahren nicht gesehen«, sagt Kris und seine Stimme wird lauter. »Acht Jahre, Somer. Meine Eltern werden älter, meine Neffen werden groß. Ich hätte früher hinfahren sollen, aber jetztmuss es sein.« Kris schenkt sich Cabernet nach und lehnt sich auf seinem Stuhl zurück.
    »Das ist ja wohl nicht meine Schuld«, sagt sie. »Du bist doch immer hingefahren, sooft du wolltest. Ich habe dich nie davon abgehalten. Du bist selbst dran schuld.« Er schnaubt und trinkt einen großen Schluck Wein. »Für mich ist es schwieriger, Kris, das weißt du«, sagt sie. »Ich habe nicht so eine Verbindung zu Indien wie du, es ist anders für mich. Du weißt nicht, wie das ist.«
    »Was soll das heißen, du hast nicht so eine Verbindung zu Indien?«, sagt Krishnan. »Dein Mann ist aus Indien, und deine Tochter ist aus Indien, falls du das vergessen haben solltest.«
    »Du weißt, wie ich das meine«, sagt sie, schließt fest die Augen und reibt sich die Stirn.
    »Nein, weiß ich nicht. Erklär’s mir doch bitte mal. Ich denke, es gibt nur zwei Erklärungen. Entweder du hast ein Problem damit, dass Asha meine Familie kennenlernt, die auch ihre Familie ist, wenn ich dich daran erinnern darf. Oder du hast ein Problem damit, dass sie ein bisschen indischer wird. So oder so ist es allein dein Problem, Somer, nicht Ashas. Wir haben sie prima erzogen. Aber jetzt ist sie erwachsen, und du kannst nicht alles, was sie macht, kontrollieren. Du bist doch immer diejenige, die sagt, wir sollten sie so akzeptieren, wie sie ist, wir sollten sie in ihren Interessen unterstützen. Verdammt noch mal, als ich in ihrem Alter war, bin ich auf die andere Seite der Welt gezogen, und meine Eltern sind nicht dran zerbrochen.«
    »Das ist nicht ganz dasselbe«, sagt Somer, mit Tränen in den Augen.
    »Ach nein? Inwiefern?« Sein schiefes Lächeln kann die Kälte in seinen Augen nicht kaschieren.
    Weil es deine einzigen Eltern waren. Sie mussten nicht be fürchten, dich zu verlieren. »Weil es das nicht ist«, sagt sie, die einzigen Worte, die sie aussprechen kann.
    »Es ist anders, weil ich in dieses fantastische Land gekommen bin, wo Milch und Honig fließen, das ja wohl kein Mensch je wieder würde verlassen wollen? Meinst du das?«
    Sie schüttelt den Kopf, und die Tränen fließen. Sie findet nicht die Worte, um sich ihm verständlich zu machen, um die Gleichgültigkeit in seinen Augen zu durchdringen.
    Als er schließlich wieder etwas sagt, ist seine Stimme ruhig. »Ich reise am achtundzwanzigsten Dezember ab, falls du mitkommen willst.« Jedes Wort aus seinem

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