Geheime Tochter
Mund schneidet so präzise wie ein Skalpell. Sie blickt ihn fassungslos an, während er fortfährt: »Ja, ich habe bereits Tickets. Um diese Jahreszeit sind die Flüge schnell ausgebucht, ich wollte kein Risiko eingehen.«
Sie spürt, wie die Leere in ihr sich ausdehnt und ihren Bauch ausfüllt. »Wann … hast du gebucht?«
»Was spielt das für eine Rolle?«, blafft er und nimmt dann einen Schluck. »Im September. Nach Ashas Abreise.«
»So ist das also? Dann ist ja längst alles entschieden.« Für sie ist die Sache jetzt klar. Sie hat bei dieser Entscheidung kein Mitspracherecht, genau wie sie bei Ashas Entscheidung keine Wahl hatte.
»Ja, so ist das.« Er steht auf und bringt seinen Teller zur Spüle, wo sein Besteck klappernd ins Becken fällt. »Komm mit, wenn du willst. Oder nicht. Wäre vielleicht besser.«
Der nächste Tag kommt Somer surreal vor. Sie untersucht Patienten, liest Krankenakten, schreibt Rezepte. Es läuft alles wie an jedem anderen Tag auch, doch irgendetwas hat sich verlagert. Es ist, als hätte jemand ihre Welt genommen und auf der Achse in Schieflage gebracht. Alles,was ihr vertraut ist, entgleitet ihr. Nicht genug damit, dass Kris und Asha sie nicht brauchen, sie können sie anscheinend nicht länger in ihrem Leben ertragen, hintergehen sie, um eigene Pläne zu machen.
In der Mittagspause geht sie die paar Blocks zu Whole Foods und kauft wie üblich einen Salat zum Mitnehmen und eine Limo. Auf dem Weg aus dem Laden bleibt sie kurz vor dem Schwarzen Brett für Kunden stehen. Sie überfliegt die Aushänge von Leuten, die einen Hundeausführer suchen oder ihren Trödel anbieten, und bemerkt einen Zettel von jemandem, der seine kleine Wohnung in Palo Alto untervermieten will. Sie zupft einen der anhängenden Papierstreifen mit der Telefonnummer ab und steckt ihn ins Portemonnaie. Kurze Zeit später ruft sie an und macht schnell alles klar, ehe sie es sich anders überlegen kann.
Am Abend sagt sie Krishnan, dass sie nicht mitkommen wird. Dass es vielleicht gut wäre, wenn sie etwas Abstand zueinander hätten, nur für eine Weile, ein paar Monate. Sie sind sich einig, dass Asha nichts davon wissen muss. Somer will ihren Entschluss erklären, ist aber überrascht, wie unüberrascht er offenbar ist.
»Ich hoffe, du findest einen Weg, glücklich zu sein, Somer«, sagt er lediglich. Nachdem er nach oben gegangen ist, bleibt Somer auf der Couch im Wohnzimmer sitzen und weint. Am nächsten Morgen beginnt sie zu packen.
39
Ein Versprechen
Mumbai, Indien – 2004
Asha
Dadima besteht darauf, dass Asha ihre Cousinen zur mehndi – Zeremonie der Braut begleitet, obwohl sie selbst nicht mitkommt. »Ich bin eine alte Frau, solche Dinge sind nichts mehr für mich. Geht ihr Mädchen ruhig allein und amüsiert euch.«
Priya bringt Asha einen hellblauen salwar khameez aus Chiffon mit, der zum Glück weniger auffällig ist als der lengha , den sie für die Hochzeit bekommen hat. Auf dem Weg zu dem Fest erklärt Priya, dass die mehndi – Zeremonie nur für Frauen ist, enge Verwandte oder Freundinnen, die sich vor der Hochzeit treffen, um Hände und Füße der Braut dekorativ mit Henna zu bemalen. Die Thakkars sind eingeladen, weil Dadimas Mutter seit ihren Jugendtagen in Santa Cruz gut mit der Mutter von Mrs Rajaj befreundet war, obwohl beide Frauen längst verstorben sind.
Als sie am palastartigen Haus der Rajajs eintreffen, wird Asha klar, dass der angeblich intime Charakter der mehndi – Zeremonie sich darin niederschlägt, dass die Gästezahl an diesem Abend nur mehrere Hundert beträgt, wohingegen zur Hochzeit Tausende erwartet werden. In dem riesigen Marmorfoyer lassen ein Harmoniumspieler und ein tabla – Trommler schwungvolle indische Musik erklingen. In einiger Entfernung sieht Asha einen prunkvollen Büfetttisch mit zahllosen silbernen Schüsseln und bewegt sich langsam darauf zu. Priya hält sie am Arm fest und flüstert: »Wir müssen erst Hallo sagen.« Dabei deutet sie mit dem Kinn leicht in Richtung des großen Wohnzimmers. Die Braut sitzt in einem thronähnlichen Sessel auf einer erhöhten Plattform. Eine Frau sitzt zu ihren Füßen, eine andere bearbeitet ihre Hände. Jede von ihnen verwendet eine kleine Plastikspritztüte mit einer grünen Paste darin. Als Asha näher herangeht, sieht sie, dass die Frauen ein unbeschreiblich filigranes Ornament auf die Haut der Braut malen – einen Blütenzweig, der sich über den Handrücken bis in die mit Wirbeln und Spiralen bedeckte
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