Geheime Tochter
wird gebeten, in einem Frisierstuhl nach unten zu rutschen, bis ihr Hinterkopf auf der Rückenlehne ruht. Die Stylistin, die ein Namensschild mit der Aufschrift KITTY an ihrem weißen Kittel befestigt hat, weist Asha an, ein Auge zu schließen und die Haut darüber und darunter mit den Fingern zu straffen. Kitty hält einen langen gezwirbelten Faden zwischenMund und Fingern fest und beginnt, unangenehm nah an Ashas Gesicht mit dem Kopf zu wippen. Der vibrierende Faden brennt an Ashas Brauenknochen und verursacht ein Kitzeln in ihrer Nase. Kitty unterbricht ihre Arbeit ein paarmal, weil der Faden reißt, und noch einige Male mehr, weil Asha niesen muss. Zum Glück ist das Ganze innerhalb von zehn Minuten überstanden. Asha setzt sich mit tränenden Augen wieder aufrecht im Stuhl hin, und Kitty reicht ihr einen Spiegel, damit sie ihre frisch modellierten Brauen begutachten kann. Kitty wendet sich an Priya und sagt etwas auf Hindi, was ihre Cousine mit einem schiefen Nicken zu bestätigen scheint.
»Was hat sie gesagt?«, fragt Asha.
»Sie hat gesagt, dass du viele Haare hattest. Warte nicht so lange bis zum nächsten Mal, dann tut es auch nicht so weh.«
Sie sitzen zusammen – Asha, Priya und Bindu – auf vinylbezogenen Bänken an einem Tisch im China Garden, einem Restaurant, das für seine chinesische Küche im indischen Stil berühmt ist. Bindu reicht Asha einen Teller mit Hähnchen süßsauer, während sie und Priya über die bevorstehende Hochzeit sprechen. Asha weiß inzwischen, dass alle ihre Cousinen und sogar einige ihrer Eltern nicht vegetarisch essen, wenn sie ausgehen, bei Dadima zu Hause aber weiterhin unausgesprochen die Illusion aufrechterhalten, sie wären strenge Vegetarier.
»Ich habe gehört, die jamai hat sechs weiße Pferde, eins für jeden Cousin, und der Bräutigam selbst kommt in einem weißen Rolls-Royce«, flüstert Bindu über den Tisch. Asha nimmt einen Bissen von dem Hähnchen, das für ihren Geschmack vor allem scharf schmeckt und kaum süß oder sauer.
Priya nickt und beißt in ihre Frühlingsrolle. » Arre , jemand hat mir erzählt, sie lassen sich die Hochzeit fast ein crore kosten. Sie wollen zehntausend Leute verköstigen!« Priya erklärt Asha die Begriffe. »Ein crore ist hundert lakh «, und dann flüstert sie: »Zehn Millionen Rupien.«
»Die Braut hat schon allein in der Halskette acht Karat an Diamanten, von den Ohrringen und dem Nasenstecker ganz zu schweigen. Sie wechselt zwischen drei verschiedenen Garnituren – Diamanten, Smaragde und Rubine. Und dreißig Reife aus zweiundzwanzigkarätigem Gold an jedem Arm. Schon für ihren Schmuck brauchen sie einen Wachmann.« Bindu grinst und schenkt allen grünen Tee nach.
»Du bist genau zur richtigen Zeit gekommen, Asha«, sagt Priya. »Das wird die Hochzeit des Jahres. Und da wimmelt es nur so von interessanten Junggesellen.« Priya zwinkert ihr über den gebratenen Reis hinweg zu, und alle drei kichern wie ein paar alte Freundinnen. Asha muss so heftig lachen, dass sie grünen Tee aus der Nase prustet und ihr Tränen übers Gesicht laufen.
Ehe sie sich schlafen legt, notiert Asha in ihrem Tagebuch, was sie heute alles erlebt hat. Und dabei macht sie eine Feststellung, die sie selbst überrascht: Das Essen ist ihr zu scharf, sie findet die Kleidung unbequem und die Schönheitsbehandlungen tun weh, und dennoch fühlt sie sich hier allmählich wie zu Hause – wie im Schoß ihrer Familie.
38
Entschluss
Menlo Park, Kalifornien – 2004
Somer
Somer lobt sich innerlich selbst für das gelungene Brathähnchen, weil sie weiß, dass Kris es nicht tun wird. Seit Asha letzten Monat nach Indien abgereist ist, sind sämtliche Konflikte, die sie jahrelang unterdrückt hatten, offen ausgebrochen und haben sich unter ihrem Dach breitgemacht wie zahllose störende Logiergäste. Somer kann noch immer kaum begreifen, warum Asha so eine Entscheidung getroffen hat. Sie hat versucht, ihre Wut auf Krishnan zu begraben, aber seine Komplizenschaft will ihr einfach nicht aus dem Kopf.
Kris nimmt schweigend etliche Bissen und spricht dann mit vollem Mund. »Wir müssen uns wegen Indien entscheiden. Asha gibt keine Ruhe, bis wir ihr ein Datum nennen.« Als sie aufblickt, bemerkt sie die Flasche Tabasco neben seinem Teller. Er hat die Angewohnheit, alles, was sie kocht, mit irgendeiner scharfen Soße zu übergießen, mit irgendwas aus dem vielfältigen Sortiment, das er im Kühlschrank aufbewahrt. Es ist, als wollte er jeden feinen Geschmack
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