Geheimes Verlangen
vielleicht überhaupt nichts bemerkt hat. Andere Dinge, häufig Kleinigkeiten, scheinen ihn zu ängstigen und zu beunruhigen. Dann wird seine Stimme plötzlich lauter, bis es ihr gelingt, ihn durch gutes Zureden wieder zu besänftigen. Vielleicht wirkt er ja nur äußerlich so gefasst und ruhig – wie eine leichte Brise. Er befolgt weniger Regeln als sie selbst, obwohl auch sie sich kaum Regeln unterwirft. Sie hustet und lächelt, wischt sich mit der Hand über die Wangen. Eines muss man ihm lassen: Er ist immer wieder für eine Überraschung gut.
Eine dieser Überraschungen ist seine perfekte Haut. Der Mann ist wie ein Gemälde, wie Seide. Die Oberfläche seines Körpers ist makellos, als ob er sich niemals verletzt hätte. Das Haar auf seinen Armen glänzt hellbraun, wenn Licht darauf fällt. Sie muss jedes Mal unwillkürlich an ihre rauen Hände denken, ihre aufgeschürften Knie, ihre vom Wind ausgetrockneten Lippen. Selbst das Bett erscheint nicht weich genug, um ihn gebührend aufzunehmen. Sein Gesicht, seine Brust, seine Arme, seine Füße – wie Federn. Hände wie Kolibriflügel. Angesichts solcher Zartgliedrigkeit kommt sie sich roh vor: Am liebsten würde sie ihn beißen, ihn kratzen, ihn fesseln, ihn verwüsten. Wenn sie morgens an ihn denkt, drückt sie ihn nieder, gräbt ihre Fingernägel in sein Fleisch, küsst ihn so wild, dass seine Lippen aufreißen und bluten. Beißt so fest zu, dass er um Gnade fleht. In der Morgendämmerung kommt er bereitwillig zu ihr. Zu dieser Zeit des Tages gibt es nichts, was ihn zwingt, von ihr wegzugehen, und sie kann mit ihm anstellen, was sie will. Hundert Räume, hundert imaginierte Situationen, lauter Dinge, die sie im richtigen Leben nicht tun kann, während er wie ein hungriger, fast heiliger Ästhet am Ufer eines Flusses entlangschreitet.
Ein brauner Vogel mit langem, geradem Schnabel – ein Lappenvogel – landet auf dem Zaun, durchbohrt sie mit seinem starren Blick. Sie wendet ihm den Rücken zu, hebt den Spaten. Ein Spaten hat eine scharfe Schneide; eine Schaufel hingegen dient dazu, schon gelockertes Erdreich auszuheben. So viel weiß sie, weiß sie bereits seit Jahren, ohne sich zu erinnern, wo sie das gelernt hat. Das meiste hat sie sich selbst beigebracht: Wie man mit Pflanzen umgeht, hat sie durch Beobachtung gelernt. Der Boden ist schon seit Jahrzehnten nicht mehr umgegraben worden, und das Spatenblatt sinkt wie geschmiert tief in das Erdreich hinein.
Als sie noch jünger, noch nicht Besitzerin eines eigenen Hauses war, hatte sie fast schon einen Sport daraus gemacht, es im Freien zu treiben, und zwar an möglichst ausgefallenen Orten: nach reichlichem Champagnergenuss in den mitternächtlichen Gärten des Exhibition Building, am einundzwanzigsten Geburtstag ihrer besten Freundin im Sandkasten einer Vorschule. Am Strand von Venedig, während ein alter Mann vorüberging, der stehen blieb und auf Italienisch etwas murmelte. In der obersten Etage eines raketenförmig gebogenen Klettergestänges auf einem Kinderspielplatz. Später stellte sie fest, dass sie den Spielplatz vom Fenster des Zuges aus sehen konnte, mit dem sie regelmäßig fuhr. Der Anblick der so stolz aufragenden Rakete entlockte ihr jedes Mal ein gequältes Lächeln. Keiner dieser Orte war besonders angenehm gewesen, nicht einer davon lohnte einen zweiten Besuch. Auch wenn es vielleicht lächerlich klingt: Ihr bedeuten diese Erinnerungen trotzdem eine ganze Menge. Sie stößt den Spaten mit der Sohle ihres Stiefels in den Boden und hört das Knacken durchtrennter Wurzeln. »Hm. Die Rakete, das wäre vielleicht nochmal was«, sagt sie. Die Katze blickt beiseite, schließt ihre goldenen Augen.
Aber für ihn ist das alles nichts – nicht gastlich genug für eine derart makellose Haut. Mit ihm möchte sie ungestört nackt in einem bequemen Bett liegen, die Knie hochziehen und sich an ihn kuscheln; und mit seinem Arm zwischen ihren Brüsten einschlafen, das Schlagen seines Herzens spüren, sich ihre Schulter von seinem Atem streicheln lassen. Mitten in der Nacht kann er in sie hineinschlüpfen, ohne sie richtig aufzuwecken und sie wie auf einer sanften Welle wiegen. Sie liegt schweigend da, nimmt seine Hand, und dann gibt es nur sie und ihn, die Dunkelheit ringsum und das Bett, die Berührung durch seinen festen Körper und das Auf und Ab seiner Erektion in ihrem Schoß. Dann dreht er sie auf den Rücken und küsst bis zum Höhepunkt ruhig ihren Hals. Und wenn alles vorbei ist, schläft er wie
Weitere Kostenlose Bücher