Geheimnis der Liebe: Roman (German Edition)
sich. »Ich bin blind. Wie können Sie von mir erwarten zu wissen, wohin ich mich wende?« Um weitere Fragen zu umgehen, fuhr er fort: »Vielleicht sollten Sie mir einmal erklären, warum meine ausdrücklichen Anordnungen missachtet wurden und hier drinnen die Fenster offen stehen?«
»Ich war das. Als Ihre Pflegerin bin ich der Meinung, dass ein bisschen Sonnenschein und frische Luft Ihren …« – sie räusperte sich, als wäre ihr etwas im Hals stecken geblieben – »… Ihren Blutfluss verbessern würden.«
»Mit meinem Blutfluss ist alles in bester Ordnung, danke sehr. Und ein Blinder hat schließlich wenig Verwendung für Sonnenschein. Es ist höchstens eine grausame Erinnerung an all die Schönheit, die er nie wieder sehen wird.«
»Das mag schon stimmen, aber es ist wohl kaum fair, Ihren ganzen Haushalt mit sich in die Dunkelheit zu zwingen.«
Eine Minute lang fehlten Gabriel vor Verblüffung die Worte. Seit er von Trafalgar heimgekehrt war, waren alle auf Zehenspitzen um ihn herumgeschlichen und hatten geflüstert. Niemand – nicht einmal seine eigene Familie – hatte es gewagt, so unverblümt mit ihm zu reden.
Er wandte sich voll und ganz zu ihrer Stimme um und gestattete es den gnadenlosen Sonnenstrahlen, sengend in sein Gesicht zu fallen. »Ist es Ihnen nie in den Sinn gekommen, dass ich auch zum Wohl meiner Diener auf zugezogenen Vorhängen bestanden haben könnte? Warum sollten sie mich bei Tageslicht anschauen müssen? Ich bin wenigstens mit Blindheit gesegnet, die es mir unmöglich macht, meine grässliche Entstellung zu sehen.«
Miss Wickershams Reaktion auf seine Worte und den Anblick seines Gesichts war das Letzte, womit er gerechnet hätte. Sie brach in Gelächter aus. Ihr Lachen unterschied sich ebenfalls von dem, was er erwartet hätte. Statt eines trockenen, gackernden Lachens ertönte ein kehliges, volles und melodisches Gelächter, das ihn zu verspotten schien und gleichzeitig erregte, womit bewiesen war, dass es um seinen Blutfluss sogar noch besser stand, als er gedacht hatte.
»Hat man Ihnen das gesagt?«, fragte sie schließlich. Während sie um Atem rang, entfuhr ihr immer wieder belustigtes Gekicher. »Dass Sie grässlich entstellt seien?«
Er zog finster die Augenbrauen zusammen. »Das musste mir niemand sagen. Ich mag blind sein, aber ich bin weder taub noch blöde. Ich konnte die Ärzte an meinem Bett flüstern hören. Als der letzte Verband entfernt wurde, habe ich meine Mutter und meine Schwestern entsetzt aufstöhnen gehört. Ich konnte schier spüren, wie alle mit Grauen auf meine Haut starrten, als die Lakaien mich aus dem Krankenhaus in die Kutsche brachten. Sogar meine eigene Familie erträgt es kaum, mich anzuschauen. Warum, meinen Sie, haben sie mich hier weggesperrt wie ein Tier in einen Käfig?«
»Soweit ich es beurteilen kann, sind Sie es gewesen, der die Käfigtüren zugesperrt und die Fenster verbarrikadiert hat. Vielleicht ist es ja nicht Ihr Gesicht, das Ihre Familie fürchtet, sondern Ihre schlechte Laune.«
Gabriel fasste blindlings nach ihrer Hand und erwischte sie beim dritten Anlauf. Er war erstaunt, wie klein, aber fest sie sich in seinem Griff anfühlte.
Sie ließ einen erschreckten Ausruf hören, als er sie mit sich zerrte. Statt dass sie ihn durch das Haus führte, ging er voran, zog sie mit sich die Treppe hinauf und den langen Flur hinunter zu der Galerie mit den Familienportraits. Als Kind hatte er jede Ecke und jeden Schlupfwinkel von Fairchild Park erkundet, und dieses Wissen kam ihm jetzt zugute. Er marschierte mit ihr im Schlepptau die Galerie hinunter, maß seine langen Schritte genau, bis sie am Ende des Raumes angekommen waren. Er wusste, was sie dort sehen würde: ein großes Portrait, verhüllt von einem Leinenlaken.
Er selbst hatte die Verhüllung angeordnet. Er konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass jemand es ansah und sich voller Wehmut daran erinnerte, was für ein Mann er einmal gewesen war. Wenn er nicht so ein sentimentaler Narr wäre, hätte er es zerstören lassen, so wie schließlich auch er zerstört worden war.
Er tastete nach dem Rand des Lakens und riss es herunter. »Da! Was halten Sie nun von meinem Gesicht?«
Gabriel trat beiseite und lehnte sich an das Galeriegeländer, erlaubte ihr, das Gemälde zu betrachten, ohne dass er ihr im Nacken saß. Er brauchte sein Augenlicht nicht, um zu wissen, was sie sah. Das Gesicht hatte er fast dreißig Jahre lang jeden Tag im Spiegel erblickt.
Er wusste um das Spiel
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