Geheimnis der Liebe: Roman (German Edition)
abzugeben. Sie nahmen ihre Mahlzeiten in ihren Räumen ein und hätten schon bei der Vorstellung entsetzt aufgestöhnt, ihre zarten weißen Hände mit solch niederen Arbeiten zu ruinieren, wie Böden zu fegen oder schwere Vorhänge zum Lüften auf den Hof zu schleppen.
Die Hände von Miss Wickersham waren nicht mehr zart oder weiß. Die blassen Ovale ihrer Fingernägel waren abgebrochen und wiesen Schmutzränder auf. Eine blutige Blase hatte sich an ihrer rechten Hand gebildet, zwischen Daumen und Zeigefinger. Ihre Brille war verrutscht und hing ihr schief auf der Nase, und während alle Bediensteten sie nun so betrachteten, ließ ein leises Schnarchen die Haarsträhne, die ihr über die Nase gefallen war, sich leicht auf und ab bewegen.
»Soll ich sie wecken?«, fragte Elsie flüsternd.
»Ich bezweifle, dass das möglich ist«, erklärte Beckwith leise. »Das arme Kind ist offensichtlich völlig erschöpft.« Er winkte einen der größeren Lakaien zu sich. »Warum trägst du Miss Wickersham nicht nach oben in ihr Zimmer, George? Und nimm eines der Dienstmädchen mit.«
»Ich gehe«, meldete sich Elsie eifrig und vergaß ihre Schüchternheit.
Als der Lakai Miss Wickersham mit seinen kräftigen Armen hochhob, streckte eine der Spülmägde die Hand aus, um die Brille gerade zu schieben.
Nachdem sie gegangen waren, starrte Mrs. Philpot weiter mit unergründlicher Miene auf die Ottomane hinunter.
Beckwith trat mit einem verlegenen Räuspern dichter zu ihr heran. »Soll ich den Rest der Dienerschaft für die Nacht fortschicken?«
Langsam hob die Haushälterin den Kopf. In ihren grauen Augen stand eiserne Entschlossenheit. »Ich denke nicht. Es gibt immer noch jede Menge zu tun, und ich werde nicht länger zulassen, dass sie herumlungern und es anderen überlassen, ihre Pflichten wahrzunehmen.« Sie schnippte mit den Fingern zu den beiden verbliebenen Lakaien. »Peter und Phillip, ihr nehmt diese Chaiselongue dort und rückt sie an die Wand.« Breit grinsend beeilten sich die Zwillinge und fassten jeder ein Ende des schweren Sofas. »Vorsicht«, mahnte sie. »Wenn ihr das Rosenholz zerkratzt, ziehe ich euch die Reparaturkosten vom Lohn ab.«
Um die erstaunten Dienstmädchen herumgehend, klatschte sie so fest in die Hände, dass das Geräusch in der Bibliothek wie ein Pistolenschuss hallte. »Betsy, Jane, ihr holt ein paar Besen und einen Mopp, Lumpen und einen Eimer heißes Wasser. Meine Mutter hat immer gesagt, dass man sich das Fegen sparen kann, wenn man hinterher nicht aufwischen will. Und jetzt, da die Vorhänge weg sind, lassen sich die Fenster viel leichter putzen.« Als die Dienstmädchen nur stumm dastanden und sie mit offenem Mund anstarrten, scheuchte sie die beiden mit ihrer Schürze zur Tür. »Hier wird nicht herumgestanden und geglotzt wie an Land gespülte Forellen. Geht schon, geht!«
Mrs. Philpot marschierte zu einem der Flügelfenster und riss es auf. »Ah!«, rief sie, und ihre Brust weitete sich, als sie in tiefen Zügen die nach Flieder duftende Nachtluft einatmete. »Vielleicht riecht morgen früh das Haus schon nicht mehr wie ein offenes Grab.«
Beckwith stellte sich neben sie. »Hast du den Verstand verloren, Lavinia? Was sollen wir denn dem Herrn sagen?«
»Ach, gar nichts.« Mrs. Philpot nickte zu der Tür, durch die Miss Wickersham verschwunden war, und ein listiges Lächeln spielte um ihre Lippen. »Das macht sie schon.«
3
Meine liebe Miss March,
ich muss gestehen, seit ich Sie zum ersten Mal erblickt
habe, habe ich an nichts anderes – und niemand
anderen – gedacht als …
Am nächsten Morgen stieg Gabriel vorsichtig die Treppe hinab, bei jedem Schritt schnuppernd. Seine Nasenflügel blähten sich, aber er konnte nicht den leisesten Hauch von Zitronenmelisse wahrnehmen. Vielleicht hatte Miss Wickersham seinen Rat ja beherzigt und war abgereist. Mit ein wenig Glück würde er ihre Impertinenz nie wieder ertragen müssen. Bei dem Gedanken wollte sich seltsamerweise keine Befriedigung einstellen. Er musste hungriger sein, als er geglaubt hatte.
Er gab jeden Versuch auf, unentdeckt zu bleiben, und stürmte durch die Türen in den Empfangssalon, wobei er sich im Geiste darauf gefasst machte, sich jeden Moment die Schienbeine an einem Möbelstück zu stoßen. Eigentlich begrüßte er den Schmerz, den das mit sich brachte. Jeder frische blaue Fleck oder Kratzer diente ihm als Erinnerung, dass er noch am Leben war.
Doch auf das, was ihn heute erwartete, hatte ihn nichts
Weitere Kostenlose Bücher