Geheimnis der Liebe: Roman (German Edition)
dass Sie noch am Leben sind.«
»So heißt es.« Ehe sie ihre Hand wegziehen konnte, fasste er sie am Handgelenk und hielt sie fest. »Aber was ist mit Ihrem Glück, Miss Wickersham? Wollten Sie nicht längst zurück in London sein und Ihr zärtliches Mitgefühl einem dankbareren Seemann angedeihen lassen, der Ihnen schon nach kürzester Zeit Kuhaugen macht und Ihnen, sobald er wieder auf den Beinen ist, die Ehe anbietet?«
»Und worin bestünde da die Herausforderung?«, erkundigte sich Samantha leise, unfähig, ihren Blick von den langen, männlichen Fingern loszureißen, die sich um ihr blasses, schmales Handgelenk schlossen. Sein Daumen lag direkt über ihrem rasenden Puls. »Ich ziehe es vor, mein zärtliches Mitgefühl auf undankbare, übellaunige Grobiane zu verschwenden. Wissen Sie, wenn Sie wollten, dass ich bleibe, hätten Sie sich nicht die Kehle aufzuschlitzen brauchen. Sie hätten einfach nur nett Bitte sagen müssen.«
»Und meinen Ruf der Übellaunigkeit gänzlich ruinieren? Ich denke nicht. Außerdem habe ich nur wegen des Vergnügens nach Ihnen geläutet, Ihnen höchstpersönlich zu kündigen.« Sein Daumen strich über ihre prickelnde Handfläche, fast schon eine Liebkosung.
»Nun, ich kann jetzt wohl kaum gehen«, erklärte sie kühl. »Mein Gewissen würde es mir niemals gestatten, Sie zu verlassen, bis Sie sich völlig von dem Sturz erholt haben.«
Er seufzte. »Dann, nehme ich an, werden Sie wohl bleiben müssen. Nichts liegt mir ferner, als ein so reines Gewissen wie das Ihre zu belasten.«
Von seinen Worten unangenehm berührt, entzog sie ihm ihre Hand. Dort, wo seine Finger gelegen hatten, kribbelte ihr die Haut.
»Natürlich sind Sie nicht vollkommen«, fügte er hinzu und nickte in Richtung Stuhl. »Wenn Sie schlafen, schnarchen Sie.«
»Und Sie sabbern«, entgegnete sie und erkühnte sich, ihm einen Finger auf den Mundwinkel zu legen.
» Touché , Miss Wickersham! Die Zunge der Dame ist so scharf wie ihr Verstand. Vielleicht sollten Sie den Arzt rufen, bevor ich wieder zu bluten anfange.« Er schlug die dünne Decke zur Seite, schwang die Beine aus dem Bett. »Oder noch besser, ich hole ihn selbst. Trotz meines kleinen Missgeschickes gestern, fühle ich mich heute Morgen erstaunlich munter.«
»Oh nein. Das lassen Sie schön bleiben!« Samantha packte ihn an den Schultern und drückte ihn in die Kissen zurück. »Dr. Greenjoy hat gesagt, Sie müssen mindestens drei Tage das Bett hüten.« Sie runzelte die Stirn. »Allerdings hat er zu erwähnen vergessen, wie ich Sie dort halten soll.«
Sich in die Kissen lehnend, verschränkte Gabriel die Hände hinter dem Kopf, und seine blicklosen Augen funkelten teuflisch. »Machen Sie sich keine Sorgen, Miss Wickersham. Es wird Ihnen bestimmt etwas einfallen.«
Regen prasselte gegen die Fensterscheiben von Gabriels Schlafzimmer. Doch anstatt einschläfernd zu wirken, ging ihm der gemütliche Rhythmus auf die ohnehin schon strapazierten Nerven. Jeder hoffnungsvolle Plan der vergangenen beiden Tage, dem Gefängnis Bett zu entrinnen, war von der ständigen Gegenwart seiner unermüdlichen Pflegerin vereitelt worden.
Aufgrund seiner wachsenden Unruhe schien jedes Geräusch im Zimmer überlaut – das Knarren der Bank am Fenster, wenn Miss Wickersham sich tiefer in die Kissen lehnte, das saftige Knacken, wenn sie ihre Zähne herzhaft in die feste Schale eines Apfels grub, das leise Rascheln von Papier, wenn sie eine Seite ihres Buches umblätterte.
Wenn er Erinnerung mit Phantasie kombinierte, konnte Gabriel sie beinahe vor seinem geistigen Auge sehen, wie sie an genau der Stelle saß, die er selbst als Kind so oft eingenommen hatte, als dieses Zimmer noch das Schlafzimmer seiner Eltern gewesen war. Der Milchglasschirm der Argand-Lampe auf dem schmalen Tischchen warf einen behaglich gedämpften Lichtschein um sie, hielt die Schatten in Schach. Vermutlich hatte sie ihre Füße unter sich gezogen, um sie vor der feuchten Kälte zu schützen, die an regnerischen Tagen durch die Ritzen drang. Als sie wieder von ihrem Apfel abbiss, sah er ihre kräftigen weißen Zähne genau vor sich, wie sie sich in die knackige rote Schale bohrten; er sah ihre kleine rosa Zunge hervorschnellen, um den Tropfen Saft an ihrem Mundwinkel aufzufangen.
Vermutlich trug sie einen dieser lächerlich kleinen, spitzenbesetzten Leinenfetzen, den Frauen als Häubchen bezeichnen, auf ihrem Haar. Aber so sehr Gabriel sich auch bemühte, das Gesicht darunter vermochte er
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