Geheimnis der Liebe: Roman (German Edition)
sich nicht vorzustellen.
Mit seinen langen Fingern trommelte er auf die Bettdecke, und seine Frustration nahm zu. Er räusperte sich, aber es war nur das erneute Rascheln von Papier zu hören, als sie weiterblätterte. Er räusperte sich noch einmal, diesmal mit dem Nachdruck eines Pistolenschusses.
Seine Bemühungen wurden mit einem leidgeprüften Seufzer belohnt. »Sind Sie sich wirklich ganz sicher, dass ich Ihnen nicht doch etwas vorlesen soll, Mylord?«
»Nein, danke«, erwiderte er die Nase rümpfend. »Dann würde ich mir wie ein kleines Kind vorkommen.«
Samanthas Schulterzucken war beinahe hörbar. »Wie Sie wollen. Ich möchte Sie um Himmels willen nicht bei Ihrem Geschmolle stören.«
Er ließ ihr gerade genug Zeit, sich wieder in die Geschichte zu vertiefen, ehe er wissen wollte: »Was lesen Sie denn da?«
»Ein Schauspiel. Thomas Mortons Eile geboten . Es ist eine recht spritzige Gesellschaftskomödie.«
»Im Theatre Royal in der Drury Lane habe ich einmal eine Aufführung davon gesehen. Sie werden gewiss feststellen, dass es sehr viele Gemeinsamkeiten zwischen Mrs. Grundy und Ihnen gibt«, sagte er; er verwies damit auf die Galionsfigur des prüden Anstands in dem Stück, die nie tatsächlich auf der Bühne erschien. »Ich hätte gedacht, eine Tragödie von Goethe etwa wäre mehr nach Ihrem Geschmack. So ein grimmiges Moralstück, in dem irgendein armer Tropf ewig im Fegefeuer schmoren muss, nur weil er flüchtig ein Stück Strumpf gesehen hat oder irgendeine andere ähnlich unverzeihliche Sünde begangen hat.«
»Ich ziehe es vor zu glauben, dass keine Sünde unverzeihlich ist.«
»Dann beneide ich Sie um Ihre Unschuld«, antwortete er und stellte überrascht fest, dass er das wirklich tat.
Das Geräusch einer weiteren Seite, die umgeblättert wurde, verriet ihm, dass sie lieber weiterlas, anstatt mit ihm zu streiten. Er schickte sich gerade darein, ein ausgedehntes Nachmittagsschläfchen zu machen, als sie laut auflachte.
Gabriel runzelte die Stirn. Der volle Klang berührte ihn stärker, als er es erwartet hätte. Er zog ein Bein an, wobei die angehobene Decke seinen Unterleib verbarg. »War das ein Lachen, oder ist Ihnen der Apfel im Halse stecken geblieben?«
»Ach, nichts«, erklärte sie obenhin. »Nur eine besonders witzige Stelle.«
Nach einem weiteren fröhlichen Glucksen erkundigte er sich barsch: »Und? Halten Sie es nicht für ein Zeichen von schlechten Manieren, eine derartige literarische Brillanz für sich zu behalten?«
»Ich dachte, Sie wollten nichts vorgelesen bekommen.«
»Schreiben Sie es meiner morbiden Neugierde zu. Mich bringt der Wunsch schier um zu erfahren, was eine so humorlose Person wie Sie amüsiert.«
»Nun gut.«
Während sie einen witzigen Wortwechsel zwischen zwei Brüdern vortrug, die beide derselben Dame ihr Herz geschenkt hatten, bemerkte Gabriel zu seiner Überraschung, dass seine Pflegerin ihre wahre Berufung verfehlt hatte. Sie hätte zur Bühne gehen sollen. Ihre komische Betonung ließ jede Figur lebendig werden. Ehe es ihm bewusst wurde, hatte Gabriel sich im Bett aufgesetzt und lehnte sich vor.
Mitten in einem spritzigen Wortgefecht brach sie ab. »Ach, verzeihen Sie bitte. Ich wollte gar nicht so weit lesen und so lange Ihre Ruhe stören.«
Mit einem Winken tat er ihre Entschuldigung ab, da er gespannt darauf wartete, wie die Szene zu Ende ging. »Sie können genauso gut bis zum Schluss weiterlesen. Ich denke, Ihr Gestammel ist meinen eigenen Gedanken vorzuziehen.«
»Ich kann mir gut vorstellen, dass sie Ihnen schnell langweilig werden.«
Gabriel musste seine Phantasie nicht über Gebühr bemühen, um sich ihre selbstzufriedene Miene vorzustellen, als sie sich wieder über ihr Buch beugte. Aber wenigstens tat sie, was er verlangt hatte; sie las an der Stelle weiter, wo sie soeben aufgehört hatte, bis zum Ende des Stückes. Am Schluss des letzten Aktes seufzten sie beide befriedigt.
Als Samantha schließlich das Wort ergriff, hatte ihre Stimme die Härte verloren. »Langeweile muss Ihr schlimmster Feind sein, Mylord. Vor dem Krieg waren Sie gewiss mit vielerlei … Vergnügungen beschäftigt.«
Bildete er es sich nur ein, oder sprach sie das Wort beinahe zärtlich aus? »Langeweile war mein schlimmster Feind. Bis Sie nach Fairchild Park kamen.«
»Wenn Sie es mir nur gestatten würden, könnte ich Ihnen helfen, die Eintönigkeit ein wenig zu lindern. Ich könnte mit Ihnen Spaziergänge durch den Park unternehmen. Ich könnte Ihnen
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