Geheimnis des italienische Grafen
eindringlich in die Augen geschaut hatte, als könnte er ihre geheimsten Gedanken und Träume darin lesen. „Eigentlich nicht … Ich ging nur in Madame Sevignys Salon, um mit ihr über mein Kostüm zu diskutieren. Übrigens gibt es da eine fantastische weiße Seide, Callie, die würde dir ausgezeichnet stehen.“
Nur sekundenlang musterte Calliope ihre Schwester misstrauisch. Aber sie nickte. „Gut, ich werde mich bei Madame umsehen. Vielleicht schon morgen, wenn du mich begleitest.“
„Sehr gern, ich muss ohnehin neue Bänder für meinen Hut kaufen.“
Dann sprach Cameron wieder mit seiner Frau. Thalia nutzte die Gelegenheit und ließ ihren Blick noch einmal durch den Zuschauerraum schweifen. Erst als sich der Vorhang öffnete, wurde ihre Geduld belohnt.
Marco betrat eine Loge in ihrer Nähe – seltsamerweise allein. Nachdem er sich gesetzt hatte, richtete er seine Aufmerksamkeit auf die Montagues und Capulets, die einander in prächtigen Renaissancegewändern anfeindeten.
„‚… steck dein Schwert nur ein! Wo nicht, so führ es, diese hier zu trennen!‘
‚Was? Ziehn und Friede rufen? Wie die Hölle hass ich das Wort, wie alle Montagues …‘“
Eine Zeit lang beobachtete sie ihn durch ihr Opernglas und glaubte, er müsste ihren Blick spüren. Aber er schaute kein einziges Mal in ihre Richtung. Konzentriert verfolgte er die Ereignisse auf der Bühne.
Auch Thalia lauschte den Schauspielern, nachdem sie ihre Verwirrung überwunden hatte, und geriet schon bald in den Bann der sinnlichen, romantischen, gefährlichen Welt von Verona. „Romeo und Julia“ zählte zu ihren Lieblingsdramen. Wann immer sie eine Gelegenheit fand, schaute sie sich eine Aufführung der Tragödie an, die sie stets aufs Neue faszinierte. Sie kannte den Text auswendig. Und wider besseres Wissen hoffte sie immer wieder auf ein glückliches Ende.
So zu lieben, so frei und ungehemmt, so leidenschaftlich, dass nicht einmal der Hass mehrerer Jahrzehnte die Gefühle besiegen konnte – wie wunderbar, wie lebenssprühend!
Durch ihr Opernglas sah sie den Maskenball der Capulets, einen Musik- und Farbenrausch. Und Julia, die Augen groß und staunend – obwohl die Schauspielerin sicher älter war als vierzehn … Mit einem Partner nach dem anderen tanzte sie, bis ein Mann vor ihr stand, den sie nicht kannte. Ein Fremder. Trotzdem glaubte sie ihn sehr gut zu kennen. So vertraut war er ihr. Und nichts würde jemals wieder so sein wie zuvor.
„‚Derweil mein Mund dir nimmt, was er erfleht. Nun hat dein Mund ihn aller Sünd entbunden.‘
‚So hat mein Mund zum Lohn Sünd für die Gunst?‘
‚Zum Lohn die Sünd? O Vorwurf, süß erfunden! Gebt sie zurück!‘“
Plötzlich stand Marco auf und verließ die Loge. Thalia sank in sich zusammen, als wäre sie von einer beklemmenden Fessel befreit.
Doch sie wusste, dass sich das straff gespannte Band, das sie mit Marco vereinte, nur vorübergehend gelockert hatte. Es konnte nicht zerreißen – noch nicht.
Auf der Bühne änderte sich die Szene, statt des fröhlichen Festes zeigte sich Julias Balkon, von Efeu umrankt. In einem weißen Nachthemd trat sie aus ihrem Zimmer und seufzte schmerzlich. Nur zu gut wusste Thalia, was das Herz des Mädchens quälte …
„‚… schwör dich zu meinem Liebsten, und ich bin länger keine Capulet.‘“
Das ertrug Thalia nicht länger – das hilflose Verlangen, die Sehnsucht, die zu einer unaufhaltsamen Katastrophe führen musste. Sie konnte kaum noch atmen, fühlte sich machtvoll zur Welt Julias hingezogen, und ihre eigene blieb hinter ihr zurück.
Flüsternd entschuldigte sie sich bei Calliope, floh aus der Loge und eilte in den schwach beleuchteten Korridor. Bis hierher drangen Julias gedämpfte Worte.
„‚So grenzenlos ist meine Huld, die Liebe so tief ja wie das Meer. Je mehr ich gebe, je mehr auch hab ich: beides ist unendlich …‘“
Thalia schloss die Augen, presste die Hände auf ihre Ohren und schüttelte den Kopf. Nein! Das wollte sie nicht empfinden, nicht für Marco. Nicht für jemanden, den sie nicht vollends verstand, der sich weigerte, ihr zu vertrauen. Niemals würde sie sich so wie Julia bedenkenlos einer hoffnungslosen Liebe hingeben.
„Fühlst du dich nicht gut, Thalia?“, erklang Marcos Stimme, zärtlich und besorgt. So sanft, so verlockend.
Sie hob die Lider und sah ihn aus den Schatten auftauchen. Mit seinem schwarzen Haar, in einem Frack aus schwarzem Samt, die dunklen Augen unergründlich, war er ein Teil der
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