Geheimnis des Verlangens
Vasili . Schließlich hatten sie sich alle Stefan untergeordnet, immer. Sie folgten seinen Anweisungen, und gelegentlich sahen sie sogar zu ihm hinüber, um seine schweigende Zustimmung einzuholen, bevor sie irgend etwas unternahmen. Und es war Stefan, der die Befehle gab, nicht Vasili . Sie hatten versucht, ihr einzureden, dass Stefan als der ältere der beiden Vettern den größeren Einfluß besaß, aber diese Behauptung hatte immer einen falschen Beigeschmack gehabt. All diese Unstimmigkeiten hatten es ihr unmöglich gemacht, Vasili für einen König zu halten, und daher konnte sie natürlich auch den Rest ihrer Geschichte nicht glauben.
Aber dann erinnerte sie sich an eine fast vergessene kleine Episode: Lazar hatte sie einmal gefragt, ob Stefan ihr als König lieber wäre. Und sogar Stefan selbst hatte sich danach erkundigt, was sie wohl empfinden würde, wenn sie eine andere Wahl hätte als Vasili . Nun, und wenn es so war? Außerdem war es Stefan, der von Anfang an die Verantwortung für sie übernommen hatte, ganz so, als sei das sein gutes Recht, oder, wie Sascha sagte, als betrachte er sie bereits als seine Frau.
Und was würde sie erst empfinden, wenn sie schließlich alles, was sie ihr erzählt hatten, akzeptieren musste ? Es war tatsächlich viel schwerer, eine Ehe mit Stefan in Erwägung zu ziehen als mit Vasili . Im Falle von Vasili gab es gar keine Frage. Sie würde sich einfach weigern. Aber wenn es um Stefan ging — sie war wahrscheinlich genauso hin und her gerissen in ihren Gefühlen wie er. Da war einmal die gewaltige Anziehungskraft, die von ihm ausging, und sie hoffte, es sei alles wahr, er würde eines Tages ihr Ehemann sein. Dann jedoch waren da all ihre Zweifel, und sie hoffte, dass sie nicht gezwungen werden konnte, ihn zu heiraten, selbst wenn diese ganze Geschichte der Wahrheit entsprach.
Die Zweifel gewannen natürlich die Oberhand. Sie waren einfach in der Überzahl. Gegensätzlichkeit, Feindseligkeit, die Tatsache, dass ihre einzige Gemeinsamkeit in ein paar entfernten Verwandten bestand, von denen sie nicht das geringste wusste . Dann war da die Ehe an sich — der bloße Gedanke war ihr zuwider. Es würde schon schlimm genug sein, sich einem normalen Mann unterwerfen zu müssen, aber Stefan war kein normaler Mann, er war ein allmächtiger König. Und sie hatte wahrhaftig schon einen Vorgeschmack von seiner Herrschsucht bekommen. Bisher hatte er ihre eigenen Wünsche mit konsequenter Bosheit ignoriert.
Und sie durfte auch Stefans verwirrendes Benehmen ihr gegenüber nicht vergessen. Er begehrte sie, wünschte jedoch, er täte es nicht; er fand sie schön, wünschte jedoch, sie wäre es nicht. Und er wollte sie nur ein einziges Mal, das hatte er schon zugegeben, und wahrscheinlich war er derselben Meinung wie Vasili , dass königliche Ehen politisch und nicht persönlich gemeint waren. Solche Ehen erforderten nur wenig Kontakt zwischen den Eheleuten, egal in welcher Hinsicht. Aber was würde das für sie bedeuten? Würde sie Stefan immer noch wollen, ohne die geringste Hoffnung darauf, ihn jemals zu bekommen? Würde sie freiwillig durch diese Art von Hölle gehen? Die Männer mochten sie ja für dumm halten, aber so dumm war sie wirklich nicht.
Sie würde sich also weigern, Stefan zu heiraten. So wie sie es auch getan hätte, wenn man ihr Vasili als Ehemann präsentiert hätte. Falls das alles überhaupt stimmte, und unglücklicherweise war sie mittlerweile beinahe davon überzeugt. Und dann begriff sie auch, wie naiv ihre Einschätzung der eigenen Möglichkeiten war. Stefan hatte es selbst einmal gesagt —dass sie als Cardinierin ihrem König gehorchen musste , genauso wie alle anderen auch. Sie nahm an, dass sie nicht viele Möglichkeiten hatte. Sie musste gehorchen, oder man würde sie in einen Kerker werfen — oder was es sonst an widerwärtigen Alternativen gab. Wieder war es Sascha, der ihr bei einem ihrer täglichen Gespräche Klarheit darüber verschaffte.
Es begann damit, dass sie ihn fragte, wie Stefan an seine Narben gekommen war. Zum erstenmal wollte der kleine Mann ihr keine Antwort geben.
»Stefan sollte derjenige sein, der Euch davon erzählt, falls er das will.«
»Wir hatten bisher eine friedliche Reise, Sascha.« Ihr Ton klang so trocken wie Wüstensand. »Glaubt Ihr wirklich, ich sollte etwas daran ändern, indem ich ihn um eine Audienz ersuche?«
Er gluckste leise. »Es ist jetzt beinahe fünf Wochen her, seit Ihr Euch das letzte Mal gesehen habt.
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