Geheimnis des Verlangens
konnte.«
Den Schleier, der sich über ihre Augen legte, konnte er nicht mißverstehen. Seine Hand wollte nach ihrer greifen, wurde aber sofort zurückgezogen, als die Kutsche anhielt. Sie bemerkte es nicht, weil sie zu beschäftigt damit war, sich energisch über di^ Augen zu wischen.
»Wo sind wir?«
»Bei einem Haus am Stadtrand, das mir gehört. Wir werden hier die Nacht verbringen, während alles für die letzte Etappe unserer Reise vorbereitet wird.«
Wieder bot er ihr seine Hand, aber diesmal, um ihr aus der Kutsche zu helfen.
»Euer eigenes Haus, hier, so weit von daheim entfernt?«
»Ich habe es nur gemietet, als wir im Frühjahr durch Danzig kamen.«
Sie warf ihm einen verblüfften Blick zu. »Und Ihr habt es all diese Monate behalten, nur um bei Eurer Rückkehr irgendwo eine Nacht verbringen zu können? Lieber Himmel, Stefan, irgend jemand sollte einmal ein ernstes Wort mit Euch reden über die Art, wie Ihr das Geld zum Fenster rauswerft.«
Er lachte, weil sie es ernst meinte. »Das Haus hat nur ganz wenig gekostet, Tanya.«
Sie blickte an dem zweistöckigen Gebäude empor und rief: »Es muss ein wahres Vermögen gekostet haben!«
»Außerdem wurde es für die Diener benötigt, die ich hier zurückgelassen habe.«
»Oh, natürlich, das ergibt einen Sinn«, erwiderte sie trocken, »insbesondere, da es nur ein paar Wochen dauert, um Cardinia von hier aus zu erreichen — aber Ihr wart jetzt, wie lange, sieben oder acht Monate fort?«
Jetzt sah er sie stirnrunzelnd an und nahm ihren Ellbogen, um sie zur Vordertür zu führen. »Die Unkosten waren nebensächlich«, sagte er kurz und bündig. »Und meine Diener haben es vorgezogen, hier auf mich zu warten. Ich sehe wirklich nicht...«
Die Tür wurde aufgerissen, und eine Rothaarige mit üppigen Kurven warf ihre Arme um Stefans Hals und heftete ihre Lippen auf seinen Mund. Stefan mochte es nicht sehen aber Tanya sah ganz genau, warum dieser Diener es vorgezogen hatte, hier auf ihn zu warten.
Kapitel 36
E s hatte unbestreitbar auch einen Vorteil für sie, dazustehen und gezwungenermaßen zuzusehen, wie ihr Verlobter eine andere Frau küsste . Es lenkte Tanya vollkommen von der deprimierenden Geschichte ab, die sie gerade über ihre Familie gehört hatte. Und es ließ sie außerdem rotsehen, was keineswegs nur mit der Haarfarbe dieser Schlampe zusammenhing.
Zu Stefans Ehrenrettung war jedoch zu sagen, dass er den Kuss dieser Frau nicht gerade enthusiastisch erwiderte. Er schien ihn eher beenden zu wollen, aber dafür ließ er sich, für Tanyas Geschmack viel zuviel Zeit. Und sie zweifelte keinen Augenblick daran, dass nur ihre Gegenwart bei dieser herzergreifenden Wiedervereinigung ihn daran hinderte, den Kuss zu erwidern. Aber sie war da, und er wusste es. Was konnte er also anderes tun, als diesen halbherzigen Versuch zu machen, sich aus der Umklammerung der Rothaarigen zu lösen.
Als er dann endlich mit diesem erstaunlichen Kraftakt Erfolg hatte — die Frau klammerte sich wahrhaftig an ihn —, kam er in den Genuß einer überschwenglichen Erklärimg ihres Verhaltens. »Es war wirklich zu schlimm von dir, Stefan. So lange wegzubleiben, dass ich dich einfach unglaublich vermissen musste . Und wir haben uns solche Sorgen gemacht. Dein Vater hat einen Mann hergeschickt, der sich zweifellos innerhalb der nächsten Stunde auf den Weg machen wird, um ihm Neuigkeiten von dir zu überbringen. Dieser Angsthase hat sich hier als die reinste Landplage erwiesen. Aber ich nehme an, Sandor war ebenso beunruhigt über deine Verspätung wie wir anderen. Er wollte wahrscheinlich keinen Tag länger warten, als unbedingt nötig, um zu erfahren, dass du sicher zurückgekehrt bist.«
»Mein Vater lebt also noch?«
»Ich habe nichts Gegenteiliges gehört«, versicherte sie ihm mit einem strahlenden Lächeln.
Tanya versteifte sich, als die Frau abermals nach Stefan griff, offensichtlich mit der Absicht, ihm zu zeigen, wie entzückt sie darüber war, ihn endlich wiederzuhaben. Tanya verspürte einen außerordentlich starken Drang, nach dem Messer zu greifen, das jetzt an ihrem Oberschenkel festgeschnallt war, obwohl sie nicht genau wusste , was sie eigentlich damit tun wollte. Es war nur ein kleines Obstmesser, das sie auf dem Schiff beschlagnahmt hatte. Und sie hatte auch einen neuen Platz finden müssen, um es zu verbergen, nachdem Sascha sich ihrer Stiefel entledigt hatte. Aber es war eben sehr schwer, mit alten Gewohnheiten zu brechen. Selbst wenn immer einer
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