Geheimnis Um Mitternacht
gefunden und von einem mächtigen Familienmitglied daraus befreit worden war. Andere hatten erklärt, dass er verrückt, wieder andere, dass er beschränkt sei. Einige wenige hatten Perversionen angedeutet, die so abgründig waren, dass sie sie einer Dame gegenüber nicht erwähnen konnten. Eine ganze Anzahl hatte die Ansicht vertreten, dass er missgebildet sei und schrecklich anzusehen.
Offensichtlich haben zumindest die, die Letzteres behauptet haben, unrecht, dachte Irene. Sie streckte ihre Hand aus und setzte eine höfliche Miene auf, in der Hoffnung, dahinter das drängende Interesse verbergen zu können, mehr über ihn zu erfahren. „Wie geht es Ihnen, Lord Radbourne."
„Lady Irene." Er nahm ihre Hand und schenkte ihr dieselbe Andeutung einer Verbeugung, mit der er Francesca bedacht hatte.
Als Radbourne kurz ihre Hand berührte, fühlte Irene einen Schauer durch ihren Körper laufen. Wie absurd, sagte sie sich -nur eine flüchtige Berührung, nicht mehr als ein höflicher Austausch, der bei unzähligen Gelegenheiten stattfindet. Es hieß nichts, bedeutete nichts weiter ... und doch konnte sie nicht abstreiten, dass sie etwas anderes gefühlt hatte als sonst, wenn sie ihre Hand zum Gruß gereicht hatte.
Wut stieg in ihr hoch - auf diesen Mann, auf Francesca, die sie dazu verleitet hatte, ihn zu treffen, aber am allermeisten auf sich selbst, weil sie diesen Anflug von Erregung und Interesse verspürt hatte. Es war ganz untypisch für sie, und Irene fand es ausgesprochen lästig. Eigentlich war sie eine Frau, die immer wusste, was sie tat.
Es gab einen Moment unangenehmer Stille, als der Earl Irene ansah und sie seinen Blick kalt erwiderte. Zweifellos war er daran gewöhnt, dass unverheiratete Frauen, die er traf, ihn hofierten. Was auch immer für Gerüchte über ihn kursieren mochten, war er doch ein Earl und nach allem, was man hörte, sehr reich. Sie wusste nicht, warum er sie kennenlernen wollte, aber sie war fest entschlossen, ihm zu zeigen, dass sie ihrerseits keinerlei Interesse an ihm hatte.
Francescas Blick wanderte zwischen Irene und dem Earl hin und her. Dann sagte sie: „Ein wundervoller Ball, nicht wahr? Ich hoffe, dass Sie Freude an dem Fest haben, Lord Radbourne."
Der Earl gönnte ihr kaum einen Blick. Vielmehr sah er Irene an und sagte: „Darf ich um diesen Tanz bitten, Mylady?"
„Ich möchte nicht tanzen", erklärte Irene direkt. Aus dem Augenwinkel konnte sie sehen, wie Francescas Augenbrauen bei dieser unhöflichen Antwort in die Höhe schnellten, aber sie ging nicht darauf ein.
Lord Radbourne hingegen schien diese direkte Zurückweisung keineswegs zu beirren. Zu Irenes Überraschung huschte ein amüsierter Ausdruck über sein Gesicht, als er sagte: „Das trifft sich sehr gut, da ich kein besonders guter Tänzer bin. Warum gehen wir nicht einfach ein Stück und reden?"
Seine Unverfrorenheit raubte Irene den Atem. Aber Francesca warf mit einer Spur von Lachen in ihrer Stimme ein:
„Das hört sich nach einer exzellenten Idee an. Während Sie beide beschäftigt sind, werde ich unserer Gastgeberin meine Aufwartung machen."
Mit diesen Worten drehte Francesca sich um und ließ Irene allein mit Lord Radbourne zurück. Ihr blieb nichts anderes übrig, als seinen Arm zu nehmen, den er ihr hinhielt, weil sie schon einige neugierige Blicke auf sich gezogen hatten. Wenn sie ihn direkt zurückwies, würde morgen in ganz Mayfair darüber geredet werden.
Also gab sie mit einem würdevollen Nicken nach und legte ihre Hand auf seinen Unterarm. Als sie am Rand der Tanzfläche entlangspazierten, nickte Irene ein, zwei Frauen zu, die sie beobachteten. Sie konnte Lord Radbournes Muskeln unter dem Ärmel seines Gehrocks fühlen, und es überraschte sie, dass diese Tatsache Wärme in ihr aufsteigen ließ.
„Lady Haughston hat angedeutet, dass Sie mich kennenlernen wollten", begann Irene auf ihre übliche geradlinige Art. Sie hatte vor langer Zeit herausgefunden, dass Männer auf diese Weise schnell jedes Interesse an ihr verloren.
Es gehörte sich einfach nicht für eine Dame, auf die Koketterie und kleinen Tricks zu verzichten, die im Umgang zwischen Männern und Frauen üblich war.
„Das ist richtig", antwortete er.
Sie warf ihm einen gereizten Blick zu. „Ich kann mir nicht vorstellen, warum."
„Ach nein?" Wieder sah er sie mit diesem leicht amüsierten Ausdruck in den Augen an, der Irene, wie sie feststellte, wirklich ärgerte.
„Nein, kann ich nicht. Ich bin fünfundzwanzig Jahre
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