Geheimnis Um Mitternacht
wiederholte Irene schockiert. „Was meinst du damit?"
Wieder zuckte er mit den Schultern. „Ich weiß nicht." Er machte eine Pause und vertraute ihr dann an: „Ich glaube, sie mag Gideon nicht." Er seufzte. „Sie will jedenfalls nicht, dass ich Zeit mit ihm verbringe. Aber ich mag Gideon." Seine Gesicht strahlte, als er fortfuhr: „Er ist mein Bruder. Ich hatte keinen Bruder, bis er kam."
„Es ist sehr schön, einen Bruder zu haben", sagte Irene. „Ich habe auch einen."
„Wirklich? Ist er so groß wie Gideon?"
„Nein, das glaube ich nicht. Dein Bruder ist ziemlich groß."
„Ich weiß. Er sagt, dass ich auch einmal so groß sein werde. Ich hoffe es. Das würde mir gefallen."
„Ich kann mir vorstellen, dass er recht hat. Dein Onkel Jasper ist schließlich auch sehr groß."
Timothy nickte begeistert. „Ja, das stimmt. Onkel Jasper ist nett. Aber nicht so nett wie Gideon. Es spricht nicht viel mit mir. Mama mag auch Onkel Jasper nicht. Aber ich glaube nicht, dass er böse ist. Sie?"
„Ich kenne ihn nicht gut genug, um das sagen zu können. Aber nichts an ihm ist mir als böse aufgefallen. Er ist vielleicht ein wenig still und steif."
„Gideon ist viel besser", kam Timothy zurück zu dem, was offensichtlich eines seiner Lieblingsthemen war. „Er schaut gerne die Dinge an, die ich sammle. Steine und Käfer und so. Manchmal ist er nachmittags im Garten.
Darum bin ich auch hierhergekommen, als Miss Tyning eingeschlafen ist."
„Ich verstehe." Schnell sah Irene sich um. Ihr Herz schlug plötzlich schneller. Verflixter Mann! Musste er überall sein? „Denkst du, dass er heute auch kommen wird?"
„Ich weiß nicht. Vielleicht."
„Vermutlich sollte ich dann besser zurück zum Haus gehen -damit ihr euch unterhalten könnt."
„Es wird ihn nicht stören, dass du hier bist", versicherte Timothy ihr. „Er mag Leute."
„Tatsächlich?" Das war eine Seite von Gideon, die Irene bisher noch gar nicht bemerkt hatte.
Timothy nickte. „Er spricht immer mit den Gärtnern und Stallburschen. Manchmal wenn ich in die Küche schleiche, um mir was zum Essen zu holen, ist er da und redet und lacht mit den Köchen und Dienern und allen.
Außer mit Horroughs." Der Junge verzog sein Gesicht in einer recht gelungenen Nachahmung der steifen Züge des Butlers. „Ich glaube nicht, dass Horroughs ihn mag."
„Ich bin mir nicht sicher, dass Horroughs überhaupt irgendjemanden mag", bemerkte Irene.
Timothy kicherte und fing an zu hüpfen und zu singen: „Horroughs mag niemanden. Horroughs mag niemanden."
Lächelnd sah Irene den Possen des Jungen zu. Es war schwer, sich vorzustellen, dass dieses fröhliche, lebhafte Kind Teresas Sohn war. Irene hoffte, dass es ihm gelingen würde, vom Einfluss seiner Mutter weitgehend unberührt zu bleiben. Wenigstens schien er nicht auf sie zu hören, wenn es um Gideon ging.
Timothy machte so einen Lärm, dass sie das Knirschen der Stiefel auf dem Weg erst hörte, als es direkt hinter ihr erklang. Sie wirbelte herum und sah Gideon durch das efeubedeckte Rankgitter treten, durch das sie selbst vor einigen Momenten gekommen war. Als er sie sah, blieb er stehen.
„Ah. Lady Irene. Ich hatte mich schon gefragt, mit wem Timothy wohl redet."
„Lord Radbourne." Sie war zu lange geblieben. Sie hätte sofort gehen sollen, als Timothy erwähnte, dass Gideon vielleicht auftauchen könnte.
Ob er jetzt glaubte, sie sei absichtlich hierhergekommen, um ihn zu treffen? Sie wusste, es gab Frauen, die einen großen Teil ihrer Zeit darauf verwendeten, sorgfältige, präzise Pläne auszuarbeiten, um einem Mann „zufällig" zu begegnen. Diese Praxis wurde besonders häufig auf Gesellschaften auf dem Land angewandt.
„Ich machte gerade einen Spaziergang, als ich Master Timothy begegnete", erklärte sie und bereute es sofort, da sie sich so anhörte, als würde sie nach Ausreden suchen.
„Ich habe ihr gesagt, dass du vielleicht kommst", sagte Timothy, der sich glücklich in die Unterhaltung mischte.
„Und das bist du ja auch!"
„Ja, das bin ich. Nun bin ich doppelt froh, dass ich gekommen bin, weil ich sowohl dich als auch Lady Irene sehen kann." Gideons Gesicht wurde weicher, als er lächelnd zu dem Jungen herunterblickte. Seine übliche Wachsamkeit schien verschwunden. „Was willst du mir denn heute zeigen?"
Gideon ging neben dem Jungen in die Hocke, sodass er auf derselben Höhe wie er war. Timothy lächelte, begann in seinen Taschen zu kramen und zog eine Anzahl von Schätzen hervor:
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