Geheimnis von St. Andrews
sofort nach ihrem Handy, das sie in die Jackentasche gesteckt hatte. Inspektor Abercrombie hatte sie nicht erreicht, aber die Polizeiwache war gewiss rund um die Uhr besetzt. Wenn Sergeant Murdoch und seine Kollegen anrückten, dann würden sie dem nächtlichen Besucher gewiss ein paar unangenehme Fragen stellen. Vielleicht war ja der Räuber an den Tatort zurückgekehrt, weil er noch etwas vergessen hatte?
Doch Cherry konnte nicht telefonieren, denn ihr Gesprächsguthaben war aufgebraucht. Sie besaß nämlich nur noch ein Prepaid-Handy, nachdem sie früher wegen viel zu hoher Mobilfunkrechnungen so manche schlaflose Nacht verbracht hatte. Aber momentan hätte sie viel dafür gegeben, ein funktionsfähiges Handy zu haben. Cherry biss sich auf die Unterlippe. Sie konnte natürlich zu einer Tankstelle gehen und dort ein Prepaid-Guthaben kaufen. Aber bis sie zurück war, würde der Unbekannte wahrscheinlich über alle Berge sein.
Cherry war weder feige noch draufgängerisch, sondern sie versuchte in riskanten Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren. Dadurch hatte sie sich manchmal schon aus der Affäre ziehen können, wenn sie auf dem nächtlichen Heimweg in London bedroht worden war. Allerdings wusste Cherry, dass sie dank ihres Karatetrainings Selbstbewusstsein ausstrahlte. Allein das war schon ein Grund, dass sie oft in Ruhe gelassen wurde. Ihr Trainer hatte ihr beigebracht, sich nicht in die Opferrolle drängen zu lassen.
Und genau aus diesem Grund wollte Cherry jetzt an der unbekannten Person dranbleiben. Natürlich hätte sie zur Wache laufen können, um die Polizei zu informieren. Aber sie beschloss spontan, den Verdächtigen lieber selbst im Auge zu behalten. Sie schwang sich über die Friedhofsmauer und blieb einen Moment lang in Lauerstellung, die Muskeln angespannt und bereit zur Flucht. Doch es sah nicht so aus, als ob die Gestalt Cherry bemerkt hätte. Der dunkle Körper bewegte sich immer noch auf das Pfarrhaus zu. Cherry fragte sich, ob sie es mit einer Frau oder einem Mann zu tun hatte. Das konnte sie unmöglich einschätzen. Es war schwierig genug, die Gestalt in der Finsternis im Auge zu behalten. Wenn sie nun den Suffolk-Killer vor sich hatte? Dieser Gedanke verursachte ihr eine Gänsehaut. Aber dann erinnerte sie sich an die Radiomeldung, die sie vorhin gehört hatte. Wenn der Kerl wirklich zwischen Norwich und Great Yarmouth zugeschlagen hatte, war es sehr unwahrscheinlich, dass er wieder in die Gegend von Pittstown zurückkehrte.
Oder vielleicht doch?
Konnte man die Denkweise eines Serienmörders überhaupt mit normalen Maßstäben messen? Wahrscheinlich nicht. Außerdem gab es keinen Beweis dafür, dass der Mord an dieser Elizabeth K. wirklich auf das Konto des Suffolk-Killers ging. Wie auch immer, momentan war Cherrys Neugier größer als ihre Furcht. Trotzdem lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken, als sie sich an das Phantombild des Täters erinnerte. Aber wer immer sich dort vor ihr befand – er ahnte nicht, dass sie ihn beobachtete. Das war ihr entscheidender Vorteil.
Cherry huschte über den Friedhof, wobei sie sich hinter den Grabsteinen duckte, um von dem Unbekannten nicht gesehen zu werden. Plötzlich war er hinter der Ecke des Pfarrhauses verschwunden. Was nun? Cherry atmete tief durch. Die eingeschlagene Fensterscheibe war provisorisch durch eine Holzplatte ersetzt worden. Außerdem hatte die Polizei das Haus nach der kriminaltechnischen Untersuchung wieder verschlossen. Aber vielleicht gab es an der Hinterfront einen weiteren Eingang, von dem Cherry nichts wusste?
Sie wartete noch eine Minute, bevor sie ihren ganzen Mut zusammennahm und sich ebenfalls hinter das Haus schlich. Bingo! dachte Cherry. Im fahlen Mondlicht sah sie eine schmale Tür, die angelehnt war. Dort musste der Unbekannte in das Pfarrhaus eingedrungen sein. Obwohl ihr Herz vor Aufregung raste, schlich Cherry sich näher heran. Die Tür stand nur eine Handbreit weit auf, im Inneren herrschte schwärzeste Finsternis. Offenbar benutzte der Eindringling keine Taschenlampe, aber er schaltete auch keine der Lampen ein. Cherry lauschte. Dann riskierte sie es, die Tür ein wenig weiter zu öffnen.
Im nächsten Moment bekam sie einen kräftigen Stoß in den Rücken. Cherry taumelte vorwärts in das Gebäude hinein. Die Tür wurde hinter ihr zugerammt. Es ertönte ein metallisches Klicken, als ein Riegel vorgelegt wurde.
Cherry war gefangen.
6. KAPITEL
„Hey, was soll das?! Das ist nicht witzig. Sofort
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