Geheimnis von St. Andrews
menschlichen Überreste. Cherry zweifelte nicht daran, dass die Skelettteile von einem Mann oder einer Frau stammten und nicht von einem Tier. Sie war zwar keine Anatomieexpertin, aber sie war sich trotzdem ziemlich sicher. Beide schwiegen betreten. Mark fand als Erster die Sprache wieder.
„Was soll das, Cherry? Warum öffnet Blackburn die Sarkophage und nimmt die Knochen heraus?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, das kann er nicht getan haben. Glaubst du wirklich, er hätte die steinernen Sargdeckel bewegen können? Selbst mit Sam Lonnegans Hilfe wäre das nicht zu schaffen. Oder hat er irgendeine hydraulische Maschine hier unten?“
„Das kann ich mir nicht vorstellen. Er könnte so ein Gerät wohl kaum in die Krypta schaffen, ohne dass ich es bemerke.“
„Eben. Also müssen diese Skelettteile woanders herstammen. Du hast mir doch von diesen mysteriösen Gemächern und dem Geheimgang erzählt, Mark. Wenn es diese Räume wirklich gibt, dann sind das vielleicht die sterblichen Überreste von Sir Geoffrey Stowe!“
„Du meinst, Blackburn hat den Schatz gefunden?“
„Falls es dieses sogenannte Gruftgold überhaupt gibt“, schränkte Cherry ein. „Außerdem ist Blackburn Restaurator und kein Schatzgräber. Es sei denn …“
Sie verstummte, bevor sie den Satz beenden konnte. Es war schon ziemlich heftig, was ihr gerade durch den Kopf gegangen war.
„Was wolltest du sagen?“, fragte Mark.
„Ich dachte mir, dass Blackburn das Gold vielleicht heimlich beiseiteschaffen will. Aber jetzt komme ich mir schon blöd vor, weil ich diesen Verdacht überhaupt habe. Ich meine, Blackburn ist mir nicht besonders sympathisch. Aber das macht ihn noch lange nicht zu einem Verbrecher. Weißt du eigentlich von der Geheimschrift in dem verschwundenen Kirchenbuch?“
Cherry beschloss spontan, Mark noch mehr Vertrauen zu schenken. Darum berichtete sie ihm von dem Kirchenbuch mit der Geheimschrift, das Father Nolan ihr gezeigt hatte. Bei der schlechten Beleuchtung konnte sie Marks Gesicht nicht sehen, aber seine Stimme klang beeindruckt.
„Davon höre ich heute zum ersten Mal. Und du glaubst, ohne diese Schrift könnte man die verborgenen Nebengemächer nicht finden?“, fragte er.
„Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich glauben soll. Aber ich überlege schon, woher der Schädel und die Knochen stammen.“
„Ja, wir sollten …“
Mark unterbrach sich, denn plötzlich war Blackburns Stimme zu hören. Sie klang noch weit entfernt, obwohl es in der Krypta schwierig war, Entfernungen abzuschätzen. Cherry vermutete, dass er sich am Kirchenportal mit Sam Lonnegan unterhielt.
„Raus!“, zischte sie und begann im selben Moment zu laufen. Auch Mark rannte los, was in der Finsternis gar nicht so einfach war. Nur der schmale Lichtstrahl der Taschenlampe wies ihnen den Weg. Cherry stolperte, als sie die steilen Treppenstufen erreichten. Aber zum Glück konnte sie sich noch fangen. Sie und Mark rasten die Stiege hoch, wobei sie immer zwei Stufen auf einmal nahmen.
Völlig außer Atem rannte Cherry zu ihrem Beichtstuhl, kniete sich hin und begann mit dem Schmirgeln. Mark verschwand bei seinen Holzarbeiten. Sie hörte, wie er zu hämmern begann. Im nächsten Moment betrat Blackburn die Kirche.
Cherry rang immer noch nach Luft. Sie befürchtete schon, der Restaurator würde sie in ein Gespräch verwickeln. Aber ihr Boss warf ihr nur einen prüfenden Blick zu. Dann murmelte er etwas Unverständliches und verschwand grußlos in der Krypta.
Während Cherry sich nun konzentriert dem Schmirgeln widmete, ordnete sie ihre Gedanken. Sie konnte lange mutmaßen, woher die menschlichen Überreste in der Krypta stammten. Wenn sie sich Gewissheit verschaffen wollte, musste sie die unterirdische Begräbnisstätte genau untersuchen. Bevor sie keine Beweise hatte, konnte sie auch nicht zur Polizei gehen. Womöglich gab es eine ganz harmlose Erklärung für die Skelettteile. Aber wenn sie Blackburn grundlos bei Sergeant Murdoch anschwärzte, dann konnte sie ihr Praktikum endgültig vergessen.
Ob der Restaurator Amber Page getötet hatte?
Cherry konnte nicht verhindern, dass ihr dieser Gedanke immer wieder kam. Allerdings fehlte ihr bislang ein überzeugendes Motiv für die Bluttat. Es war allerdings vorstellbar, dass Amber und Blackburn sich gekannt hatten. Cherry beschloss, nach Feierabend sofort online zu gehen. Gewiss fand sie im Internet mehr Informationen über die ermordete junge Frau. Sergeant Murdoch hatte ja bisher nicht
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