Geheimnis von St. Andrews
war, als ob sie sich in einem Spiegelkabinett befinden würde. Die unterirdische Begräbnisstätte veränderte ständig ihre Wände, Ecken, Gewölbe und Bögen. Cherry wusste nicht, ob sie in dem Traum Jägerin oder Gejagte war – vielleicht sogar beides.
Durch eine Ohrfeige wurde Cherry wieder aus dem Schlaf gerissen.
Im ersten Moment glaubte sie an eine Nachwirkung ihres Traums, obwohl in der Krypta außer ihr selbst niemand gewesen war. Aber das Brennen auf ihrer Wange war gewiss keine Einbildung. Sie riss die Augen auf.
Jenny stand über sie gebeugt und funkelte sie aggressiv an.
7. KAPITEL
Cherry warf einen flüchtigen Blick auf ihren Wecker. Es war kurz nach fünf Uhr morgens. Durch die Gardinen vor ihrem Fenster konnte sie sehen, dass es draußen bereits dämmerte. Sie musste sich jetzt erst einmal mit ihrem ungebetenen Gast befassen.
„Spinnst du, mich einfach zu schlagen? Wie kommst du überhaupt hier herein?“
Jenny sah furchtbar aus. In ihren Augen glitzerte es verräterisch. Das Haar hing ihr in verfilzten Strähnen herunter, ihre dunkle Kleidung war regenfeucht und schmutzig. Auch ihr Gesicht konnte dringend eine Behandlung mit Wasser und Seife vertragen. Cherry vermutete, dass Marks Ex unter freiem Himmel übernachtet hatte.
Übernachtet? Es sah eigentlich nicht so aus, als ob sie Ruhe gefunden hätte. Wahrscheinlich war sie die ganze Nacht umhergeirrt und hatte sich in irgendwelchen dunklen Ecken vor der Polizei versteckt. Aber Cherrys Mitleid hielt sich in Grenzen. Vor allem nachdem Jenny nun wieder den Mund öffnete.
„Meine Maulschelle war nur die Quittung für den Tritt, den du mir neulich verpasst hast, du Sumpfkuh. Und in das Haus von Mrs Miller einzusteigen ist nun wirklich keine Kunst. Sie schließt ihre Hintertür nicht besonders sorgfältig ab.“
„Ach ja, Einbruch ist ja deine Spezialität. Mark hat mir erzählt, dass du bei seinen Eltern gerne die eine oder andere Kleinigkeit geklaut hast.“
Jennys Augen funkelten vor Wut. „Hüte deine Zunge, du falsche Schlange! Und lass Mark aus dem Spiel. Du hast doch keine Ahnung von ihm. Immer wieder wirfst du dich meinem Freund an den Hals. Es ist wirklich schade, dass der Balken dich nicht richtig getroffen hat.“
Cherry fiel aus allen Wolken. Plötzlich erinnerte sie sich wieder an den Anschlag, als das schwere Holzstück von der Chorempore auf sie heruntergekracht war. Es war nicht möglich gewesen, den Täter zu erkennen. Es konnte Jenny gewesen sein. Ihre Kraft reichte gewiss aus, um den Balken über die Balustrade zu schieben. Jenny hatte Power, das wurde Cherry durch die Ohrfeige schmerzlich bewusst. Trotzdem konnte sie es irgendwie nicht glauben.
„Das mit dem Holz – das warst du? Bist du noch ganz dicht? Ich hätte sterben können. Ich habe dir doch gar nichts getan.“ Cherry war fassungslos.
„Das sehe ich ganz anders. Du glaubst wohl, weil du fremd hier bist, kannst du dir alles erlauben? Warum musst du dich auch an meinen Freund heranmachen? Es gibt doch genug andere Typen.“
Cherry begriff, dass Jenny psychisch krank war. Als normal konnte man ihre Eifersucht jedenfalls nicht mehr bezeichnen. Diese Frau war gefährlich, und zwar nicht nur für andere, sondern auch für sich selbst. Cherry wollte sie außer Gefecht setzen und dann die Polizei rufen. Doch sie lag immer noch im Bett, während Jenny breitbeinig und eine Armeslänge entfernt vor ihr stand.
Außerdem schien ihre Widersacherin zu ahnen, was sie vorhatte. Cherry spannte die Muskeln an, um nach vorne zu schnellen und Jenny zu Fall zu bringen. Doch als sie gerade angreifen wollte, zog Jenny eine kleine Dose hervor.
Eine Ladung Pfefferspray traf Cherrys Gesicht!
Die unerwartete Attacke brachte Cherry völlig durcheinander. Sie sah nichts mehr, während ihre Augen entsetzlich schmerzten. Unsanft landete sie auf dem Boden vor ihrem Bett. Sie begann zu schluchzen, denn es tat wirklich gemein weh. Wie aus weiter Entfernung hörte sie Jennys Stimme.
„Du hättest in der Kammer bleiben sollen, in die ich dich gesperrt habe, Cherry. Das wäre besser für dich gewesen. Aber eigentlich ist es sowieso egal, was du tust. Mark liebt mich nämlich immer noch, und er gehört zu mir. Das wirst du schon sehen!“
Offenbar erwartete Jenny keine Antwort von Cherry. Als Nächstes war nämlich zu hören, wie sich ihre Schritte schnell entfernten. Zusammengekrümmt lag sie vor ihrem Bett. Die Tränen liefen ihr über die Wangen, während der Schmerz ganz
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