Geheimnisse der Lebenskraft Chi
bearbeitet, als dirigierte er ein unsichtbares Orchester. Joseph steht mit geschlossenen Augen am anderen Ende und sagt laut an, wo das Chi gerade auf seinen Körper trifft. Auf jede richtige Antwort erfolgt ein weiterer Schwall Chi, bis Dr. Chow die Hände sinken lässt und Joseph dröhnend zu seinen Leistungen gratuliert.
Joseph ist ein Mensch, der eher für sich bleibt, aus meiner Sicht perfekt für das Leben eines Chi-Gong-Meisters geeignet. Er ist so sehr in seine Praxis vertieft, dass wir einander erst zwei Wochen vor seiner Rückreise nach Los Angeles näher kennenlernen. Einmal am Nachmittag in einem Coffeeshop frage ich
ihn, ob er die große Prüfung schon abgelegt habe. Er verneint es, fügt aber hinzu, dass die Fähigkeit, Chi aufzufangen, bereits ein Teil dieser Prüfung sei. Woher er das wisse, frage ich, und jetzt erzählt er von einer starken Chi-Empfindung, die er einmal hatte, als er an der Praxis vorbeiging. Er sah sich um. Auf der anderen Straßenseite stand Dr. Chow und winkte ihm mit einem spitzbübischen Grinsen. Später in der Praxis hatte Dr. Chow zu ihm gesagt, man müsse Chi aus der Ferne auffangen können, um die große Prüfung zu bestehen. Joseph blickt mir direkt in die Augen und sagt mit bedauerndem Tonfall, er werde wohl nie erfahren, worin die große Prüfung besteht, da er im Herbst sein Jurastudium aufnehmen werde.
»Jura? Aber du bist doch so begabt für Chi Gong!«
Er nippt an seiner Diätcola und schmunzelt. »Nur, wenn du außer Acht lässt, was die echten Meister alles können. Und von meiner ganzen Anlage her bin ich für so ein Leben nicht geeignet, ganz und gar westlich in meinem Denken.« Er unterbricht sich, als eine hübsche Frau an unserem Tisch vorbeigeht. »Es gibt zwei Frauen, die mich im Moment interessieren«, fährt er fort und wendet sich wieder mir zu, »aber mir sind die Hände gebunden, solange das intensive Chi-Gong-Training dauert. Diese Enthaltsamkeitsgeschichte.« Er verdreht die Augen und lacht über seine missliche Lage.
»Und wenn du wieder in Los Angeles bist, übst du dann weiter Chi Gong?«
Ganz sicher werde er das, sagt er. Und wie um seine Entschlossenheit zu beweisen, erzählt er mir, dass er praktisch immer und überall Energie aus Blumen, Bäumen und Tieren zieht. Neidvoll höre ich zu und frage ihn, wie er das macht. Er rückt den Stuhl näher an den Tisch heran. »Oh, die Technik ist
simpel. Ich halte die Hände über das, woraus ich Energie ziehen möchte, und stelle mir dabei vor, dass sie durch die Laogong-Punkte der Hände eintritt.«
»Und wenn du die Energie hast, was machst du dann damit?«
»Manchmal speichere ich sie einfach … so.« Er streicht mit der rechten Hand im Kreis über seinen Bauch. »Und manchmal lasse ich die Energie um meinen Körper zirkulieren.« Ich frage, ob es sonst noch Energiequellen für ihn gebe. »Ja, vor allem Meditation«, antwortet er. »Als ich jünger war habe ich manchmal auch einfach wildfremden Leuten Energie weggenommen.« Er lächelt über meinen erschrockenen Gesichtsausdruck. »Ja, ich weiß, das war wirklich blöd«, sagt er. »Ich habe auch nie viel weggenommen, immer nur ein bisschen, aber dann bin ich einmal krank geworden, und mir war gleich klar, dass ich mir das durch solchen Energiediebstahl eingefangen hatte.« Mit einem zerknirschten Lächeln fügt er hinzu: »Sofort-Karma.«
Ein plötzlicher Regenguss peitscht an die Fenster. »Oh, Mist, ich werde pitschnass«, schimpft Joseph. Er ist in der Stadt mit einem Verwandten verabredet. Während wir zahlen, merke ich an, dass ich besonders viel Chi spüre, wenn es regnet. Ich erzähle, dass ich sogar manchmal im Bad bei laufender Dusche übe und mein Chi dabei einen Schub erhält. Joseph hebt verwundert die Brauen und sagt, das werde er selbst auch ausprobieren.
Als ich am nächsten Morgen in die Praxis komme, sitzt Joseph hinter dem Fenster des Empfangs und strahlt mich an. »Also, gestern Abend habe ich es mit der Dusche ausprobiert, bis das ganze Bad voller Dampf war. Ich habe das Hemd ausgezogen,
und der ganze Oberkörper hat sich angefühlt, als würde das Chi auf ihm Wellen schlagen. Wirklich, das war so stark, dass ich im Spiegel nachgesehen habe, ob da nicht Beulen auf der Haut sind.« Auf meinen verblüfften Blick hin beschwichtigt er: »Nein, es war nichts zu sehen, aber so real hat sich das angefühlt. Dann hatte ich die Idee, dass ich vielleicht auch direkt unter der Dusche üben könnte, aber das hat nicht
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