Geheimnisse der Lebenskraft Chi
Ihnen verhelfen. Noch höher kommen Sie nur aus eigener Kraft.« Ich überlege, ob das wohl irgendwie mit der
großen Prüfung zu tun hat, aber inzwischen setzt er in Gipfelnähe eine weitere Marke. »Da bin ich. Und da ist auch Ihr Lehrer. Wir müssen nur noch ein paar Schritte klettern und dann ins Leere springen.«
Er legt den Stift weg und brummt nach mehr Wasser. Er leert die Schale, die ich ihm bringe, in einem Zug. Ohne Übergang erzählt er mir plötzlich von wichtigen Dingen in meiner Zukunft - manche erfreulich, andere nicht so sehr. Bei den unangenehmen Weissagungen rede ich mir ein, es handle sich lediglich um Mahnungen, die zu beachten sind. Bei den angenehmen bin ich mir ganz sicher, dass sie genauso eintreffen werden.
Der Patient im Sprechzimmer tritt jetzt ins Wartezimmer, und der Mönch erhebt sich, um in Richtung Sprechzimmer zu schlurfen, versäumt es jedoch nicht, mir noch einmal zuzunicken, als erteilte er einen priesterlichen Segen. Eine ganze Weile ist die gedämpfte Unterredung des Mönchs mit dem Arzt nebenan zu hören, ohne dass ein einziges Wort zu verstehen wäre. Was sie miteinander zu besprechen haben, wird geheim bleiben, so viel ist mir klar. Irgendwann stößt der Mönch von seinem Stuhl aus die Tür auf und winkt mich heran. Gleich bin ich da und bleibe in der Tür stehen. Mit einem Seitenblick gibt er bekannt, er habe mir etwas zu sagen, und dann lässt er einen Pfeil abschnellen, der überraschender nicht sein könnte: »Ihr Lehrer sehnt sich nach einer Frau.«
Ich bin sprachlos. Dr. Chow blickt zu mir auf, und seine Augen forschen nach einem Zeichen des Verstehens. Ich versuche ihn von innen her wissen zu lassen, dass ich verstehe. Ich weiß, dass er sich eine Familie wünscht, und ich weiß auch, dass er sie eines Tages haben wird. Aber weshalb offenbart der Mönch mir Dr. Chows Innerstes?
Als der Mönch gegangen ist, fragt mich Dr. Chow leise nach meinen Gedanken, und ich sage, es gebe keine. Er sitzt einen Augenblick mit nachdenklicher Miene da und sagt dann: »Dieser Mönch interessant.« Ich erzähle ihm von seinen Voraussagen über mein Leben und forsche nun meinerseits nach einer Reaktion in seinem festen Blick. Er nickt und bestätigt alles. Dann knufft er mich leicht in die Rippen und lächelt. »Und Ihre Kinder werden Sie verwöhnen.« Kinder? Ich bin ja noch nicht einmal verheiratet. Bevor er noch mehr verlauten lassen kann, flüchte ich, ohne mich zu entschuldigen, aus der Praxis.
BEWEGTES CHI GONG
Als ich aus einem der Praxisräume trete, höre ich auf dem Gang eine unbekannte Stimme. Eine Frau mit weichen Gesichtszügen spricht auf Chinesisch mit Dr. Chow. Als er mich kommen hört, dreht er sich zu mir um. »Mag Peter Bewegungs-Chi-Gong sehen?«
»Ja, Peter mag.«
Dr. Chow spricht leise mit der Frau, und sie schließt die Augen. Fast augenblicklich beginnt ihr Körper zu zittern. Der Doktor massiert die Luft in ihre Richtung, und durch das Chi löst sich ihr zitternder Körper vom Boden, sie torkelt wie betrunken über den Gang. Ich betrachte ihr Gesicht. Dort leuchtet eine tiefe friedvolle Gelassenheit, die nichts mit ihrem schlotternden Körper zu tun zu haben scheint. Unmittelbar vor einer scharfen Kante springt der Doktor herzu und dreht sie in eine andere Richtung. Ununterbrochen macht sie ihre kleinen Trippelschritte, eine Spur von Schaum an den Lippen, bis Dr. Chow mit einer Drehung der Hand das Tempo erhöht, und jetzt stampfen ihre Füße den Boden, als gehörten sie einer außer Rand und Band geratenen Flamencotänzerin. Sie schüttelt und schüttelt sich, bis es ihren zarten Körper zu zerreißen scheint. Dann beendet Dr. Chow die Demonstration urplötzlich,
indem er die Frau am Arm fasst und leise etwas zu ihr sagt. Sie atmet erschauernd tief ein und lächelt mich aus schüchternen Augen verstohlen an.
»Deshalb übe ich nicht gern für mich allein Chi Gong«, sagt sie.
Ist das etwa auch meine Zukunft als Chi-Gong-Schüler? Ich bin mir nicht mehr so sicher, ob ich es überhaupt auf die große Prüfung anlegen möchte. Am nächsten Tag frage ich Dr. Chow, ob meine Ausbildung auch auf solche unkontrollierten Bewegungen hinauslaufen wird. Zu diesem Zittern und Schütteln, sagt er, kommt es durch die Wirkung des Chi auf die Nerven. Mein Körper sei jedoch nicht so sensibel. Ich nicke zwar, weiß aber nicht, ob ich das als Kompliment oder als Beleidigung auffassen soll. Ich frage ihn, wer diese fremde Frau gewesen sei. Er strahlt voller Stolz: »Oh,
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