Geheimnisse der Lebenskraft Chi
das meine Schwester.«
Ich höre etwas wie Hufgetrappel, aber ich befinde mich in der Praxis in einem der Behandlungsräume, und die Tür ist geschlossen. Später berichte ich Dr. Chow davon, und er sagt, die galoppierenden Beine gehörten der bekannten Jazzpianistin und Komponistin Joanne Brackeen. Der Einfluss des Chi auf ihre Nerven äußert sich darin, sagt er, dass sie einfach auf der Stelle laufen muss. Einmal begegne ich Joanne im Wartezimmer, und sie winkt mich in einen der Behandlungsräume, wo ich sie stampfend wie eine Massai-Tänzerin erlebe. Sie wirkt danach nicht angestrengt, sondern erfrischt und belebt.
Das Chi bewirkt in ihrem Körper noch etwas anderes, und das erlebe ich eines Abends, während ich tief in meine Praxis versunken bin: Sie rülpst. Es ist nicht das, was man noch Aufstoßen nennen könnte, sondern ein abgrundtiefes, ellenlanges
volltönendes Rülpsen. Ein Rülpser folgt dem anderen mit der Regelmäßigkeit eines gastrischen Metronoms, und die ganze Praxis hallt davon wider. Es ist der Moment, in dem ich mir heilige Eide schwöre, dass mein Chi-Gong-Training augenblicklich beendet sein wird - zum Teufel mit der großen Prüfung -, sollte ich je anfangen zu rülpsen.
Meine Befragung Dr. Chows zum Thema Rülpsen ergibt, dass Körpergeräusche bei intensiver Chi-Gong-Übung nichts Ungewöhnliches sind. »Chi weiß, wie machen muss, damit jemand gesund wird«, sagt er. Joanne findet diese Nebenwirkungen eher lustig. Manchmal, sagt sie, muss sie schon lachen, wenn sie nur an das Rülps-Chi denkt.
O Chi der vielen Gesichter: Mystiker, Heiler, Weiser und jetzt Hofnarr!
Eure Medizin sei eure Nahrung, eure Nahrung Medizin.
Hippokrates
DAS KRAUT DER UNSTERBLICHKEIT
Ich besitze ein Foto eines alten chinesischen Gemäldes, auf dem ein traditioneller chinesischer Arzt stehend neben einem Hirsch abgebildet ist. In der einen Hand hält er eine Kürbisflasche, mit der anderen einen Korb, in dem Pfirsiche und ein Strauß seltsamer Blumen zu sehen sind. Ich zeige Dr. Chow das Foto, und er legt es auf seinen Schreibtisch, um es zu studieren. Aufblickend erklärt er mir, solche ausgehöhlten Kürbisse habe man früher zum Transport von Arzneien verwendet. Hirschgeweih habe damals als Nierenmittel gegolten, und dem Pfirsich wurde eine lebensverlängernde Wirkung zugeschrieben.
Ich deute auf den Blumenstrauß. »Und diese Blumen hier?«
»Oh, das nicht Blume. Das Ling zhi.«
»Ling zhi?«
»Spezieller Pilz.«
»In welchem Sinne speziell?«, frage ich.
Er erklärt: Das chinesische Schriftzeichen ling setzt sich aus den Bestandteilen »Schamane«, »fallender Regen« und »Beten« zusammen und bedeutet spirituelle Kraft; zhi bezeichnet Baumschwämme und das Elixier des langen Lebens. Die gemeinsame
Bedeutung ist Kraut der Unsterblichkeit. Ich frage, wofür man den Pilz verwenden kann. Er hebt die Arme und ruft schwärmerisch: »Für alles!«
»Warum wird er dann nicht ständig verordnet?«
»Westliche Wissenschaft muss erst noch mehr experimentieren. Außerdem meistens Ling zhi, was man findet, hat wenig Kraft. Gutes Ling zhi schwer zu finden.« Er lehnt sich zurück, schlägt die Beine übereinander, und sein Blick bekommt etwas in die Ferne Schweifendes, als er zu erzählen beginnt. Es ist die Geschichte vom Ursprung des Pilzes Ling zhi in der Zeit des legendären Gelben Kaisers Huang Di (Huang Ti).
Der Kaiser, so die Legende, erfuhr durch seine Minister von einem Pilz, der Tote zum Leben erwecken konnte. Er wurde als Chi-Pflanze bezeichnet, weil er den ganzen Körper mit Chi versorgen konnte. Bauern in den Bergen hatten Seevögel mit diesem Pilz im Schnabel beobachtet und waren so auf den Gedanken gekommen, der Pilz müsse auf einer Insel wachsen.
Der kleine Raum füllt sich mit der Energie von Dr. Chows Erzählung, und mir ist, als würde mein Körper von einer höheren Schwingung ergriffen. Der Gelbe Kaiser gab seinem höchsten Offizier, dem Admiral Xu Fu (Hsu Fu), den Auftrag, diese Chi-Pflanze zu suchen. Zusammen mit einer vielköpfigen Mannschaft stach der Admiral in See - und ward nie wieder gesehen. Es heißt, er habe das Land Wa entdeckt, Japan, und es kolonisiert.
»Sie kommen hoffentlich von Los Angeles zurück«, bemerkt der Doktor mit einem Lächeln, auf meinen am folgenden Tag beginnenden Urlaub anspielend.
»Schau’n wir mal«, erwidere ich. »Vielleicht ziehe ich da meine eigene kleine Kolonie auf.« Wie ohne jeglichen Kraftaufwand
erhebt er sich, umrundet den
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