Geheimnisse der Lebenskraft Chi
Schülern über andere Schüler, und so konnte ich ihr da nicht weiterhelfen. Allerdings hätte ich seine Einschätzung genauso gern gekannt wie sie. Ich fragte mich, ob er wohl hinter ihrem harten Lachen, ihrer Schöntuerei und ihrer mit großer Gebärde überreichten Kinkerlitzchen noch mehr von ihr wahrnahm oder die Verwerfungen ihres Charakters einfach an den Verständnisbarrieren zwischen den Kulturen hängen blieben. Ich wusste, dass er nicht zu Aussagen zu überreden war, aber konnte ich ihn vielleicht auf andere Art dazu bringen? Nun, ich bekam meine Antwort, aber ganz anders, als ich gedacht hatte.
Dr. Chow winkte mich ins Sprechzimmer. Ich setzte mich, und er blickte mir unverwandt in die Augen und fragte: »Was Peter geträumt letzte Nacht?«
»Ich kann mich nie an meine Träume erinnern. Weshalb fragen Sie?«
»Peter besser auf Träume achten.«
»Und weshalb soll Peter das?«
»Weil es für die große Prüfung gut ist.« Da war sie wieder, die schon beinahe mythische Prüfung. Seit der ersten Anspielung war so viel Zeit vergangen, dass ich sie schon kaum noch als etwas Reales sehen konnte.
»Wie können Träume mir bei der großen Prüfung helfen?«
»Achten Sie auf Träume. Dann zeigt sich.«
Am Abend nahm ich mir zum ersten Mal in meinem Leben bewusst vor, mich an meine Träume zu erinnern. Ich klebte derart an meinen schweifenden Gedanken, dass ich mich für
zwei Stunden wach hielt, bis die Welt endlich verblasste und ich tief einschlief. Ein paar Stunden später wachte ich plötzlich auf und erinnerte mich an einen lebhaften Traum. Ich stand vor einer riesigen weißen Tabelle, in der meine wenigen guten Eigenschaften und viele Schwächen aufgelistet waren. Hinter den einzelnen Eigenschaften gab es Bewertungsspalten, in denen die jeweils auf mich zutreffende Intensität angekreuzt war.
Ich weiß noch, dass ich mit dem Finger über die Liste fuhr und bei »Faul« hängen blieb. Der angekreuzte Wert ließ mich zusammenzucken, so hoch war er. Dann tauchte Dr. Chow in seinem weißen Kittel auf und machte mich wortlos auf eine zweite Tabelle aufmerksam. Irgendwie wusste ich, dass es der Bewertungsbogen der Hyäne war. Ich sah ihre schlechten Eigenschaften aufgeführt, aber es gab auch gute. Eine ihrer guten Eigenschaften war »Menschen helfen«, und der angekreuzte Wert war hoch. Ich sagte mir, dabei müsse es wohl um ihr Engagement für Wohltätigkeitszwecke gehen, von denen ich sie am Tag zuvor zufällig mit jemand anderem hatte reden hören. Da hatte Dr. Chow sie also durchschaut - aber ganz anders als ich.
Am Morgen stand der Traum immer noch ganz klar vor mir. Aber man weiß ja, dass Merkur, der Traumbringer, ein ganz durchtriebener Bursche ist. War es mein eigener Traum, oder steckte Dr. Chows Choreografie dahinter? War es denkbar, dass sich jemand in den Träumen eines anderen zu schaffen machen konnte?
Ich trat spornstreichs ins Sprechzimmer und fand Dr. Chow allein vor. »Dr. Chow, ich hatte einen Traum.«
»Ach, wirklich?«
Ich erzählte ihm kurz von den beiden Tabellen und seinem mysteriösen Auftauchen, ließ aber meine so penibel verzeichneten Schwächen unerwähnt.
»Dann kam es an«, sagte er. »Das ist gut.«
»Wie schwierig ist es, sich in den Traum eines anderen einzuschalten?«, fragte ich.
»Wie viele Millionen Chinesen üben Chi Gong?«, erwiderte er. »Wenn es einfach wäre, in Traum von anderen zu gehen, würden alle machen. Aber sie tun nicht. Also ist nicht so einfach.« Mich überkam das Gefühl, ein Nichtsnutz zu sein. Wie bedauerlich, dass dieser große Lehrmeister einen so faulen Lehrling erwischt hatte. Als ich das Sprechzimmer verließ, sagte er: »Muss noch fleißiger üben. Kein faul.« Ich wirbelte herum, seine Augen sprühten.
Meine Lehre war in eine neue Phase eingetreten. Dr. Chow hat mir nie erklärt, weshalb er mich jetzt durch das Medium der Träume unterwies. Nach seiner eigenen Einschätzung war es wohl das, was jetzt zu geschehen hatte.Weshalb sonst würde er den gewaltigen Energieeinsatz auf sich nehmen, der für ihn damit verbunden war? Ich ging davon aus, dass er die Traumunterweisung aus praktischen Gründen gewählt hatte. Wenn ein Bild tausend Worte aufwiegt, bedeutete jedes Traumbild tausend Worte weniger, mit denen er zu ringen hatte.
EIN YEDI-RITTER
Kühle Massen von Glas und Stahl wischen vorbei, dann liegt Toronto hinter uns. Eine Stunde weiter, und wir passieren unter einer frühwinterlichen grauen Wolkendecke die Stadt Hamilton, um
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