Geheimnisse der Lebenskraft Chi
die Richtung, manchmal auch mehrmals und in schneller Folge. Je sensibler mein Körper wird, desto schneller reagiere ich.
Nach einigen Monaten kommt ein neues Spiel. Ich warte im Zimmer auf Dr. Chow, aber er kommt nicht wie sonst. Ich denke, er hat mich vergessen und rufe ihn. Gleich darauf erscheint er, macht das Licht aus und geht wieder. Aber er hat kein Chi geworfen, was hat das zu bedeuten? Doch beinahe im selben Augenblick rauscht ein Schauer von Chi auf mich herab wie warmer Sommerregen. Später im Sprechzimmer fragt er mich, wann ich das Chi gespürt habe. Gleich nachdem er die Tür zugemacht hat, antworte ich. Er beugt sich vor und stützt die Ellbogen auf den Schreibtisch. »Wann noch?« Jetzt fällt mir ein plötzlicher heißer Energiestrom ein, der ungefähr nach der Hälfte der Übungsperiode an meiner rechten Körperseite abwärts floss. Ich berichte, und er sagt lächelnd: »Peter hat es.«
Jetzt möchte ich aber wissen: »Woher haben Sie das Chi geworfen?«
»Draußen. Ich bin nach draußen, wissen Sie nicht mehr?«
Richtig, ich hatte etwas vor der Tür gehört, aber es war so leise, dass ich ihm keine Bedeutung beimaß. »Also ist die Wand kein Hindernis?«
»Sie fangen besser jetzt, da ist Werfen leicht.«
Mir fällt ein, was Joseph über die große Prüfung gesagt hat, dass man Chi auch aus der Entfernung fangen können muss. Ich fasse Mut.
Drei Monate später. Ich befinde mich im abgedunkelten Zimmer. Ich übe seit zehn Minuten Chi Gong, als plötzlich von der Decke herunter etwas nebelhaft Weißes in einer Spirale auf meinen Kopf zukommt. Ich kneife die Augen zu, und als ich sie wieder öffne, kommt immer noch weißer Nebel in Spiralen. Was soll ich davon halten? Ist es eine optische Täuschung oder ein Zeichen dafür, dass sich mein drittes Auge öffnet?
Vor einigen Wochen bei einer Akupunkturbehandlung bot mir Dr. Chow an, den Akupunkturpunkt an der Stelle des dritten Auges zu öffnen. Ich lag auf der Behandlungsliege und sah sein Gesicht ganz nahe kommen, vielleicht zehn Zentimeter. Er legte mir die Finger fest an die Schläfen und drückte mit den Daumen auf die Stelle zwischen den Augenbrauen. Ich hörte ein Knacken und spürte ein rhythmisches Pulsieren, und dann flutete eine Woge von Wärme in meinen Schädel. Das Ganze dauerte vielleicht fünfzehn Sekunden. Nach und nach, sagte Dr. Chow, werde ich jetzt spüren, wie sich mein drittes Auge immer weiter öffnet. Ein geöffnetes drittes Auge, fügte er hinzu, bedeutet nicht, dass man erleuchtet ist; es bedeute einfach eine Stärkung des Shen. Ich hatte im Handbuch des Gelben Kaisers, dem alten Text aus der Zeit der Han-Dynastie,
über Shen gelesen. Nach den Angaben dieses Texts offenbart sich das Shen oder der Geist, wenn das Herz offen und achtsam ist und die Augen wahrhaft sehen können. Nach Dr. Chows Auffassung bezeichnet Shen auch die übernatürlichen Kräfte, die im Kopf ihren Sitz haben. Gutes Shen stärkt nicht nur das dritte Auge und das Denken, sondern auch die physischen Augen. Die Augen, sagt Dr. Chow, können Chi senden und vermögen noch andere erstaunliche Dinge.
Und jetzt stehe ich hier in diesem dunklen Zimmer und frage mich, was es mit dem weißen Dunst auf sich haben mag. Während dieser Übungsperiode habe ich Dr. Chow kein einziges Mal draußen auf dem Gang gehört. Später im Sprechzimmer frage ich ihn ganz frontal, wann er sein Chi gesendet habe. Er fragt nach, weshalb ich das wissen möchte, und ich antworte, dass ich nur wissen will, ob ich noch richtig ticke. Jetzt blickt er ein wenig ratlos drein und sagt: »Zehn Minuten nach Anfang.« Ich atme tief ein und frage weiter, wie er das Chi diesmal gesendet habe. Er deutet auf eine rechteckige Lüftungsöffnung in der Decke über seinem Schreibtisch.
»Durch die Lüftung?«, frage ich entgeistert. Er lacht und nickt. Ich bin schockiert, und man sieht es mir wohl an.
»Oh, das simple Physik«, sagt er. »Chi wandert schnell so.« Physik, denke ich bei mir, weiß nichts von erstaunlichen Menschen, die solche erstaunliche Energie übertragen können.
Ich gehe diesem Gefühl noch einen Augenblick nach und sage dann: »Ich glaube, heute habe ich Ihr Chi gesehen.«
»Ach ja?«
»Ist Ihr Chi immer weiß?«
»Chi hat viele Farben.«
»Erzählen Sie mir davon.«
Ich sehe ihm an, dass er hinter seiner betonten Zurückhaltung darauf brennt, mehr über seine tatsächlichen Fähigkeiten mitzuteilen. Als Kompromiss erzählt er von Joseph und seinen visuellen
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