Geheimnisse der Lebenskraft Chi
Monat später, ich bin zu meiner täglichen Chi-Gong-Übung in der Praxis, ruft mich Dr. Chow ins Sprechzimmer. Er hält sich die Stirn wie jemand, der dort eine blutende Wunde hat. Mit versagender Stimme lässt er mich wissen, dass Jerry vor einer Stunde gestorben ist. Einen Augenblick herrscht Stille.
»Vielleicht war nichts mehr zu machen, Dr. Chow. Vielleicht war es zu spät.«
»War nicht spät«, flüstert er. Dann erzählt er, Jerry habe sich geweigert, die Kräuterarznei zu nehmen, und man habe sie ihm schließlich nicht mehr angeboten. Nein, sagt er, das hätte die Familie anders machen müssen. Wenn sich ein dem Tode Naher wie ein Kleinkind verhält, müsse man ihn auch so behandeln. Man fasst ihn an der Nase und schüttet ihm die Medizin die Gurgel hinunter.
Ich sage: »Ich mochte ihn.« Dr. Chow erwidert nichts, er berührt mit den Fingerspitzen seine Augenlider.
CHI WERFEN, CHI FANGEN
»Was fühlen Sie?« Als Dr. Chow diese Frage stellt, stehe ich mit geschlossenen Augen wie eine Wachspuppe da, die Arme hängen locker herab. Er hat das Licht im Zimmer gedimmt, und ich wende den Blick nach innen.
»Schmerz«, sage ich. »Ich fühle Schmerz. Und einen Druck in der Scheitelgegend. Ein Pulsieren an der Stelle des dritten Auges.«
»Gut«, sagt er. Etwa zehn Sekunden vergehen. »Und jetzt - was ist jetzt für ein Gefühl?«
Außer einem Rieseln von Chi um meinen Kopf fühle ich nichts. Will er testen, ob ich mir etwas einbilde? Der Zweifel löst sich im nächsten Augenblick, als mir das Chi wie eine Klinge durch die Brustmitte fährt. Ich übersetze die Empfindung in Chi-Sprache und sage, Chi wandere durch den Ren mei oder Ren genannten Kanal abwärts.
»Das stimmt«, sagt er. Meine Sinne sind hellwach.Wieder vergehen zehn Sekunden, und dann sein »Jetzt - was für Gefühl?«.
»Am unteren Rücken, der Ming men. Etwas Stechendes. Wie eine heiße Nadel.«
»Und jetzt? Was für Gefühl jetzt?« Diesmal ist schwer zu sagen, wo sich das Chi niederlässt. Die Energie der vorhergehenden
Chi-Würfe verteilt sich rings um meinen Körper, und in diesem diffusen Gefühl ist die neue Chi-Berührung schwer auszumachen. Überall Empfindungen, sage ich ihm als Antwort.
»Chi Gong üben gehen«, sagt er und löscht das Deckenlicht. Ende der wunderlichen Katechese dieses Tages.
Das gleiche Spiel setzt sich Tag für Tag über viele Wochen fort. Es handelt sich um kleine Vorprüfungen, lässt mich Dr. Chow wissen, und die muss ich alle bestehen, um zur großen Prüfung zugelassen zu werden. Seit Monaten hat er die große Prüfung nicht mehr erwähnt; der Gedanke macht mich immer noch aufgeregt und nervös. Ich frage, wann er mich denn nun der großen Prüfung unterziehen möchte, und er antwortet, das hänge von meinen Fortschritten ab. Und mein Fortschritt hänge wiederum von meinem Übungseifer ab. So cool, wie ich kann, frage ich nach, ob man über die große Prüfung schon etwas sagen könne. Er lächelt. Zur großen Prüfung, erinnert er mich, gehört auch, dass man weiß, was es mit der großen Prüfung auf sich hat.
Die kleinen Prüfungen gehen also weiter, und irgendwann muss ich nicht nur die Stelle angeben, an der mich das Chi trifft, sondern auch von welcher Art es ist. Erst kürzlich bin ich darauf gekommen, dass das Chi von unterschiedlicher Form und Beschaffenheit sein kann. Es kann leicht oder schwer sein. Es kann an mehreren Stellen zugleich einschlagen wie harte Regentropfen, es kann mich an einer Stelle treffen wie ein regelrechter Brocken Energie. Es kann sich anfühlen wie der Kontakt mit einem Kiefernzweig, und manchmal geht es wie eine Folge von Wellen durch meinen Körper. Häufig spüre ich so etwas wie einen Überzug aus Chi, das dann wie ein Heilbalsam
eindringt und bis in die Knochen geht. Einmal umschließt mich eine Wolke von Chi, und ich schwebe wie in der Wärme des Fruchtwassers im Mutterschoß.
Bei einer dieser Vorprüfungen beginnt sich mein Körper zu wiegen. Dr. Chow sagt, ich soll dem Chi einfach nachgeben und folgen. Meine Füße, ergänzt er, werden sich von selbst bewegen, denn genau das möchten sie. Ganz sacht folgt ein Fuß dem anderen, und ich tappe im Uhrzeigersinn im Kreis herum wie ein Frankensteinmonster bei seinen ersten unsicheren Gehversuchen. Die langsame Kreisbahn bleibt für einige Zeit mein Muster, bis eines Tages das Chi seine Richtung ändert und ich in die Gegenrichtung laufe. Bei jeder weiteren kleinen Prüfung ändert das Chi künftig mindestens einmal
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