Geheimnisse der Lebenskraft Chi
Eindrücken. Joseph hat allerlei verschiedene Farben gesehen, am häufigsten Weiß, aber auch Gold, Blau oder Grün. Die Farbe, fügt Dr. Chow hinzu, hängt von der Verfassung des Patienten ab und davon, wie viel Chi sein Körper aufnehmen kann.Von einer seiner Schülerinnen habe ich kürzlich gehört, er habe rotes Chi geworfen. Ich erzähle es ihm.
»Rot ist Farbe von Zorn«, sagt er. »Ich werfe nie.«
»Sie sagt auch, dass Sie verschiedene Farben gleichzeitig zu verschiedenen Körperteilen senden.«
»Nein, sie im Irrtum. So wird nie gemacht. Immer nur eine Farbe.« Chi-Gong-Schüler, sagt er, bilden sich so manches ein, deshalb stelle er mich immer wieder auf die Probe, um ganz sicherzugehen, dass ich nicht solchen Einbildungen aufsitze. Dann beugt er sich zu mir herüber, wie um mir ein großes Geheimnis anzuvertrauen. »Chi ist wie Licht, aber doch anders. Chi kann sich biegen.«
Die alten Meister der Malerei wussten Farben und Linien so einzusetzen, dass wir mit neuen Augen sahen und mit neuem Herzen fühlten.Wie dieser Chi-Gong-Meister doch solch einem alten Meister ähnelt, wenn er mit präzisen Strichen von Licht-Energie malt. Seine Leinwand ist der menschliche Körper, und er verwendet biegsames verschiedenfarbiges Licht. Und nicht der Betrachter seines Werks sieht sich verändert, sondern das Kunstwerk selbst, der Patient.
DIE HYÄNE
Zu Dr. Chows Klientel gehörten auch Sympathisantinnen in durchaus nennenswerter Zahl. Diesen romantischen Geistern stand ins Gesicht geschrieben, wie sehr sie für den Doktor schwärmten. Da gab es die Einsamen, die irgendwo an den Rändern des Lebens existierten und nur seine tröstliche Gegenwart suchten. Und es gab die Schmeichelnden, die stets anerkennende Worte und kleine Geschenke für den peinlich berührten Doktor bereithielten und sich dafür vielleicht eine Sonderzuteilung Chi versprachen. Doch auch für sie kam irgendwann der schicksalsschwere Tag, an dem sie wieder ganz gesund waren und die Praxis sichtlich missvergnügt verließen. Vielleicht machten sie dann verstärkt Krankenbesuche, kauften verbeulte Konserven oder frequentierten fragwürdige Restaurants, um bald wieder behandlungsbedürftig zu sein.
Das Prachtexemplar unter diesen Schmeichlerinnen war ohne Zweifel die Hyäne. Sie kam nie ohne ein kleines Extra für den guten Doktor, und dazu gab es ein so öliges Lächeln, dass man um seinen Verdauungspuls fürchten musste. Ich bekam sie das erste Mal zu Gehör (und erst dann zu Gesicht), als sie mir gegenüber im Wartezimmer Platz nahm. An ihren Armen schepperten mehr Reifen, als man an einer Beduinenbraut
sehen würde, und sie lachte über irgendetwas, aber es war ein zutiefst unfrohes Lachen. So kam sie zu ihrem Namen. Mit einem schnellen Seitenblick schätzte sie mich ein, befand mich für unbedeutend und schwenkte ihr mittellanges rotes Haar zur Seite. Ich wandte mich wieder meiner Zeitschrift zu, aber alle paar Augenblicke rasselte sie, und wenn ich hinübersah, stupste sie ihr Haar, als müsste sie es mit den roten Fingernägeln nachfärben.
Einmal stellte mich Dr. Chow der Hyäne als seinen langjährigen Schüler vor, und das erhob mich in ihren Augen sofort in den Stand des Erlauchten, sodass sie mir fortan mit erlesener Höflichkeit begegnete und mit überladenen Komplimenten nicht sparte. Wenn ich im Wartezimmer meinen Tagesbericht zur Chi-Gong-Praxis schrieb, setzte sie sich neben mich und lieferte zum Aufwärmen erst einmal ein volles Sortiment Komplimente ab. Dann wechselte ihre Stimme in eine tiefere, gedankenvolle Lage, die ich bald als Ankündigung vertraulicher Mitteilungen einzuschätzen lernte. In solchen sehr privaten Augenblicken erfuhr ich, dass sie von der Ostküste der Vereinigten Staaten stammte, vermögend war und gerade ihre vierte Scheidung hinter sich hatte.Wenn ich auch nur eine Minute Zeit hatte, nutzte sie sie gut, um sich in aller gebotenen Eile über all die berühmten Leute auszulassen, denen sie in der vergangenen Woche begegnet war, und hatte ich zwei Minuten, wusste sie einen ganzen Monat darin unterzubringen. So lernte ich mit der Zeit auch den zweiten Modus in ihrem Verhaltensrepertoire kennen, nämliche ihre unverhohlene Verachtung für alles, was nicht berühmt war. Chi-Gong-Schüler waren davon aus irgendeinem Grund ausgenommen.
Wie um sich zu vergewissern, dass sie mit mir in den Richtigen investierte, fragte mich die Hyäne ab und zu, ob Dr. Chow je von ihr spreche. Doch der Doktor sprach nie mit
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