Geheimnisse der Lebenskraft Chi
läuft gerade ein Jazzstück. Dr. Chow bittet mich leise, das Radio auszumachen. »Habe das in Shanghai gehört, als ich jung war.«
Ich mache das Radio aus und frage: »Was für Musik hören Sie denn gern, Dr. Chow?«
»Chinesische Oper, ein bisschen westliche Klassik und diesen Fred Astaire - die Stimme mag ich.« Nach einer Pause
nimmt er den früheren Gesprächsfaden auf. »Ein Meister, der war bei einer Konferenz in Shanghai dabei. Enorme Kraft, dieser Meister.«
»Wie hieß er denn?«, möchte ich wissen. Dr. Chow erklärt, seinen Namen habe niemand gekannt, er sei aber von allen Li Quan genannt worden und stammte aus der Provinz Shandong. Er sei auf die korrekte Art an ihn herangetreten und habe um Unterweisung gebeten. Der Meister sagte, er habe zu viel zu tun, er solle in einem halben Jahr noch einmal nachfragen. In dieser Zeit, erzählt Dr. Chow, habe er versucht, den Meister ausfindig zu machen, damit er ihn besuchen konnte, aber niemand kannte seinen Namen, niemand wusste seine Telefonnummer oder Adresse. Aber nach genau einem halben Jahr traf er diesen Meister wieder.
»Wie lange waren Sie sein Schüler?«
»Eine Stunde.«
»Jeden Tag eine Stunde?«
»Eine Stunde. Nur an diesem Tag.« Sollte es zum Chi Gong je Sammelkarten geben, überlege ich, wird die Li-Quan-Karte die begehrteste sein, die Karte ohne biografische Informationen auf der Rückseite.
Dr. Chow senkt die Stimme zu einem Raunen und ergänzt: »Kann sehr viel lernen in einer Stunde.«
»Zum Beispiel?«
Er schüttelt den Kopf. Dazu wird es keine weiteren Informationen geben.
Ich weiche auf ein Seitenthema aus und frage, wie man korrekt an einen Meister herantritt. Dr. Chow hebt die Hände über den Kopf und verneigt sich so weit, wie es der Sitzgurt erlaubt. »Zu zeigen Respekt«, sagt er. »Dann muss man Geschenk
machen, zum Beispiel Obst oder Geld, vielleicht auch Kleidung. Wenn Meister Sie annimmt, macht er Stundenplan. Kann einmal im Monat sein. Nie jeden Tag.«
Ich frage ihn, ob in Nordamerika jemals jemand auf die korrekte Weise an ihn herangetreten sei. Er zeigt mir die gestrenge Lehrermiene und sagt: »Peter hat ja noch Zeit.« Er lacht und schlägt sich auf die Schenkel.
Wir erreichen die Grenze und sind in den Vereinigten Staaten, in der hereinbrechenden Dunkelheit blitzen die Lichter vorbeifahrender Wagen auf. Schweigend fahren wir auf einer Kiesstraße durch frostiges Weideland und vorbei an Bäumen, die schon in der Umarmung der Nacht versinken. Einmal öffne ich das Fenster, und die Luft schmeckt süß. Die Reservatsstraße schlängelt sich vor uns her, und wir folgen ihr einige Meilen an Ziegelsteinhäusern vorbei, bis ein weißes Holzhaus hinter einer Kurve auftaucht.
Wir steigen aus, der Weg zum Haus ist leicht mit Schnee bestäubt. Twyla Nitsch, die berühmte Heilerin, empfängt uns vor der Tür mit einem freundlichen Lächeln. Ihr Haar ist silbrig, und um ihre schlanke Gestalt ist etwas vom Leben in der Wildnis, aber ihre Herkunft verraten sonst nur ihre hohen Wangenknochen.
Im Haus berührt sie ein Kristallgehänge neben dem Panoramafenster und bleibt einen Moment sinnend stehen. Sie sagt, Mad Bear, ein Medizinmann der Cherokee, der ein Stück weiter die Straße entlang gewohnt habe, sei eben gestorben, und es sei ein Jammer, dass er niemanden ausgebildet habe - seine Medizin werde jetzt mit ihm sterben. Mit Bedauern in der Stimme spricht sie von den vielen untergegangenen indianischen Traditionen, doch dann bricht das Feurige an ihr wieder
durch, und sie erzählt von einem Jungen, aus dem ein großer Anführer ihresVolks werden wird, sie sehe es in seinem Gesicht.
Sie sorgt dafür, dass wir es alle bequem haben, dann holt sie Fragebögen, die wir ausfüllen sollen. Nach unseren Antworten, sagt sie, wird sie für jeden von uns ein Farbdiagramm machen, das uns die verborgenen Züge unserer Persönlichkeit offenbaren wird. Eine Viertelstunde später händigen wir ihr die ausgefüllten Fragebögen aus, und sie fertigt die Diagramme an, die sie dann sehr verwundert betrachtet: »Das ist ja merkwürdig«, sagt sie zu mir. »Für diese Farbdiagramme gibt es Hunderte von möglichen Mischungsformen, aber Ihres stimmt genau mit dem von Dr. Chow überein. Bei Ihnen beiden steht das Heilen ganz im Vordergrund, Sie sind beide äußerst eigenständig und haben eine Begabung zu lehren.« Sie setzt das noch einige Minuten lang fort, und dann sagt Dr. Chow: »Vielleicht haben Peter und ich gleiches Diagramm, weil wir selben
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